Das Hirtenmädchen auf dem Schoberstein

In einer längst vergangenen Zeit hütete auf der großen Schobersteinwiese ein kleines Mädchen die einzige Kuh seiner Eltern. Damit das Kind tagsüber etwas zu essen hatte, gab ihm seine Mutter immer eine Schüssel voll Mehlbrei in einem Körbchen mit.

Als es wieder einmal so einsam auf der Bergwiese saß, langte es nach dem Korb und entnahm ihm die Schüssel mit dem Brei. Eben wollte das Mädchen mit dem ersten vollen Löffel zum Mund fahren, da sah es vom Wald herunter eine alte Frau auf sich zukommen. Sie war aber viel kleiner als das Mädchen und hatte ein so runzeliges Gesicht, als wäre sie schon mehr als hundert Jahre alt. „Du liebes Mädchen“, bat die Alte, als sie herangekommen war, „schenk mir doch deinen Brei, ich habe seit gestern nichts mehr gegessen und kann nicht mehr weiter!“

Das Mädchen, das selbst Hunger hatte, antwortete: „Nehmt nur die Schüssel und eßt sie leer, ich finde für mich schon ein paar Beeren!“ Die alte Frau ließ sich das nicht zweimal sagen, griff nach der Schüssel, setzte sich nieder und aß alles auf.

Dann aber bat sie noch: „Ich bitte dich, schenk mir auch die Schüssel, ich habe meine letzte gestern zerbrochen und kann mir keine neue kaufen.“ Das Mädchen wußte, daß die Mutter zu Hause schelten würde, aber das Weiblein erbarmte ihm sehr: „Nehmt sie nur, meine Mutter wird mir schon wieder eine andere geben!“ „Du bist ein gutes Kind“, sagte die Alte, „aber es soll dich nicht gereuen. Warte ein bißchen, ich werde gleich zurückkommen!“ Nach diesen Worten nahm sie die Schüssel und stieg so rasch zum Wald hinan, als wäre sie nicht alt und schwach.

Bald kam sie wieder zurück. Mit beiden Händen trug sie die Schüssel. „Warum kommt sie damit wieder?“ dachte das Mädchen. Wie staunte das Kind, als ihm die Alte die Schüssel reichte und diese bis zum Rand mit leuchtendem Gold gefüllt war. „Nimm die Schüssel wieder“, sagte die Frau, „du verdienst sie.“

Das Mädchen wußte nicht, wie ihm geschah. Es griff nach der Schüssel, aber bald wäre sie seinen Händen wieder entglitten, weil das Gold so schwer war. „Das alles soll mir gehören?“ stammelte es. Aber als das Kind der alten Frau danken wollte, war sie verschwunden. Und wenn nicht der Schatz in seinen Händen gewesen wäre, hätte es wahrscheinlich geglaubt, alles nur geträumt zu haben.

Quelle: Heimatkundliches Lesebuch, Bezirk Kirchdorf an der Krems
Herausgegeben von einer Arbeitsgemeinschaft des Pädagogischen Institutes des Bundes für Oberösterreich, Verlag Quirin Haslinger, Linz
ISBN keine

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