Der Steinerne Jäger

Einer der merkwürdigsten und sagenreichsten Berge in den Voralpen ist der Schieferstein im schönen Ennstale. Breit und behäbig, aus grünen Fluren sich erhebend, steht er da inmitten seiner grünbewaldeten Brüder; aus dem dunklen Waldmantel, mit dem er sich bekleidet hat, reckt er sein spitzes, nacktes Steinhaupt hoch in den blauen Himmel, über das zu Zeiten weiße, mitunter auch schwarze Gewitterwolken eilend oder gemächlich ziehen; zuweilen bleiben sie auch drohend stehen und schleudern unter Donnergrollen feurige Blitze um sein schweigendes Steinhaupt.

Seit altersher lebt im Volke des Ennstales, im Umkreis von Losenstein, Reichraming, Laussa und darüber hinaus der Glaube, dass hoch droben in den Regionen es Schiefersteines ein schneeweißer, zwanzigjähriger Hirsch, ein wunderschönes Tier mit einem prächtigen Geweih, das zwanzig Enden hat, geheimnisvoll durch den Wald und über die Felsen streiche, dem Menschen aber unsichtbar bliebe. Nur in der Rupertinacht komme er dem Menschen zu Gesicht, könne ihm aber gefährlich werden, wenn er sich’s einfallen ließe, auf ihn zu schießen. Wer es aber zuwege brächte, dieses geheimnisvolle Tier zu erlegen, der müsste mit dem Teufel im Bunde sein, anders ginge das nicht. So der Glaube des Volkes.

Vor urlanger Zeit war es, da hatte der Jagdherr der Gegend veinen fremden Jäger in seine Dienste genommen. Dieser hörte von den Leuten das Gerede von dem geheimnisvollen, weißen Hirsch. Er wollte aber das, was sich die Leute von dem merkwürdigen Tier erzählten, aber nicht recht glauben. Sollte es aber dennoch einen solch prächtigen Hirschen, noch dazu in weißer Farbe, in dem Gebiet des Schiefersteines geben, so müsse er, wie er sich sagte, alles daransetzen, dieses Tier zu schießen. Sollte das am Tage, wie die Leute sagen, nicht möglich sein, so werde er das in der geheimnisvollen Rupertinacht tun. Der Jäger machte mit seinem Hunde weite Pirschgänge in den bewaldeten und schroffen Berghängen des Schiefersteines. Aber der Hirsch, von dem die Leute so merkwürdige Dinge raunten, kam ihm nicht zu Gesicht.

Da entschloss er sich, in der kommenden Rupertinacht auf den Schieferstein zu steigen, um hoch droben auf steinernem Hochsitz auf den Hirsch zu lauern. Mit seinen scharfen Augen und seiner sicheren Hand müsse es ihm gelingen, den geheimnisvollen weißen Hirsch zu erlegen.

Seine Kameraden sagte, er solle dieses Wagestück ja nicht unternehmen, denn das bringe ihm gewiss den Tod. Jedes jagdbare Tier, das im Feld und Wald, in Gräben und über Berge laufe und wandle, könne er schießen, nur nicht den weißen Hirsch; denn der sei ein verzaubertes und daher kein jagdbares Tier. Manche hätten es schon versucht, diesen Hirsch zu schießen, aber noch keinem der Jäger sei das geglückt. Auch ihm werde das gewiss nicht glücken: drum sollte auch er den Arm mit der Büchse nicht heben; denn für dieses Tier sei keine todbringende Kugel gegossen. Darauf sagte der fremde Jäger kein Wort.

Aber der von den Leuten geschilderte prächtige, wenn auch unheimliche Hirsch ließ dem kühnen Jäger keine Ruhe. Den musste er haben. In der Rupertinacht verließ er mit dem Hunde sein Heim, trat in die Nacht hinaus und lenkte seine Schritte dem Schieferstein zu. Es war eine schwüle, gewitterschwangere Sommernacht. Durch Gestrüpp und dichten Wald sieg er auf dem nur für den Jäger aber nicht für andere Leute kaum erkennbaren Steig den Berghang hinan. Sein Hund, der sonst immer voll Freude seinem Herrn folgte, wachsam und lauernd nach allen Seiten spähte, schlich heute mit hängendem Kopfe schier trübselig seinem Herrn nach.

Als beide, Herr und Hund, nach gut zwei Stunden Steigens fast die Spitze des Berges erreicht hatten, wurde es rasch finster. Drohend von Westen breit heranziehende schwarze Wolken hatten den noch eben vollscheinenden und Licht spendenden Mond verschluckt. Ein schweres Gewitter war im Anzug. Da blitzte es auch schon, und ein weithinrollender Donnerschlag folgte.

Als sie oben auf des Berges steinernem Gipfel standen – es war Mitternacht – brach der Gewittersturm mit furchtbarer Gewalt los. Hellleuchtende Blitze fuhren ununterbrochen aus der schwarzen Wolkenwand, und es war ein unaufhörliches Krachen und Donnergrollen. Im Scheine der niederfahrenden feurig-hellen Blitze sah der Jäger pltzlich den weißen Hirsch, das Haupt mit dem herrlichen Geweih geschmückt, langsam auf sich zukommen. Rasch hob er die Büchse und schoß. Zur gleichen Zeit fuhr ein vielstrahliger Blitz aus den Wolken in die finstere Nacht, dem ein gewaltiger Donnerschlag folgte. Aus einem Wolkenbruche strömte schweres Wasser nieder, das klatschend an die Felsen schlug. Damit war der Gewittersturm gebrochen. Blitz und Donner wurden schwächer und hörten langsam auf.

Als am Morgen die Sonne über die Berge stieg und den Schieferstein beleuchtete, sahen die Leute neben dem einen spitzen Felsengipfel, der immer da war, einen zweiten, aber etwas niedrigeren Gipfel in Menschenform ragen. Das war der in der Rupertinacht zu Stein gewordene tollkühne, fremde Jäger mit seinem Hund. Weil er auf den weißen Hirsch geschossen, sein Ziel aber verfehlt hatte, ist er samt seinem Hund zur Strafe von einer geheimnisvollen Macht verwunschen und in Stein verwandelt worden. Das Volk nennt den sonderbaren Felsgipfel auf dem Schieferstein, der mit einer Menschenfigur Ähnlichkeit hat und an einen Mann mit angeschlagenem Gewehr erinnert, den „Stoanarnen Jaga“.

Der "Stoanarne Jaga", ein felsiger Nebengipfel des Schiefersteines, dessen Formgebung die Phantasie der Betrachter schon immer angeregt hat: Mit genügend Vorstellungskraft kann man im schroffen Fels die steinerne Gestalt des unglücklichen fremden Jägers erkennen, der mit ausgestrecktem Arm nach links weist ....

Der unheimliche weiße Hirsch geht, wie das Volk sagt, heute noch um. Wer ihn aber in einer glücklichen Stunde schießt, so erzählt die Sage, der erlöst den „steinernen Jäger“ und seinen Hund. Derweil aber wächst der „steinerne Jäger“ jährlich um ein Haberkorn; hat er einst die gleiche Höhe mit der scharfen Spitze des Berges, dann ist der Jüngste Tag da.

Quelle: Sagen und Legenden von Steyr, Franz Harrer, Verlag Wilhelm Ennsthaler, Steyr, 3. Auflage 1980,
ISBN 3-85068-004-5

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