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Der Fluch des Verurteilten
Wer von Steyr weg auf der Eisenstraße südwärts wandert, dem Gebirge zu, kommt nach einer halben Stunde an einer alten Kapelle vorüber, die hinter verschlossenem Eisengitter ein altes, aus Holz geschnitztes Ecce-Homo-Bildnis birgt und allgemein "Schnecken-Kapelle" genannt wird. Bei dieser Kapelle soll, so heißt es, in früheren Zeiten, als noch die Hochgerichtsstätte der Herrschaft der Burg Steyr auf dem nahen Galgenhügel bestand, jedesmal auf dem Wege dahin eine letzte kurze Andacht für den Verurteilten gehalten worden sein.
Auf der buckligen Straße weiterwandernd kommt man in einigen Minuten zum Galgenberg. Dieser Berg, auf dessen einst baumlosem Rücken der dreieckige, weithin sichtbare Galgen aufragte, ist heute mit Waldbäumen und Sträuchern bestanden; der schauerliche Anblick eines am Galgen baumelnden toten Körpers ist einer reizenden Waldidylle gewichen. In nächster Nähe, in einem grünen Baumgarten, am Waldhange, steht ein altes, einstöckiges Haus mit kleinen Fenstern. In diesem Hause soll der Scharfrichter gewohnt haben. Das Gelände, auf dem die Kapelle, der Galgenhügel und das Scharfrichter-Häuschen stehen, heißt: "In der Freising". Hinter dem Galgenberg erhebt sich der bedeutend höhere Ulrichsberg, auf dessen Rücken das Dörfchen St. Ulrich mit seiner alten gotischen Kirche steht, deren Kirchturmkreuz, von der Sonne beleuchtet, goldig funkelt. Den Fuß des Galgenberges bespült der aus einer engen, finster bewaldeten Talschlucht hervorbrechende Freisingbach, der in seinem steinigen Bette plaudernd der Enns zustrebt.
Am Galgenhügel vorüber zieht die Eisenstraße, ein äußerst wichtiger Verkehrsweg. Hier geht sie über eine sehr böse Stelle: über feuchten, schlierigen Rutschgrund. Unablässig spielt hier die Natur dem Menschen einen Schabernack; seit Jahrzehnten schon läuft der Abhang mit der Straße davon, der unten vorüberfließenden Enns zu, solcherart von Zeit zu Zeit große Verkehrsstörungen verursachend. Die Sage bringt das unruhige Gelände in Zusammenhang mit einem Ereignis, das sich einst auf dem Galgenberg abgespielt haben soll. Sie berichtet: Der letzte Übeltäter, der auf dem Galgenberg hingerichtet werden sollte, beteuerte bis zum letzten Augenblick seine Unschuld. Als er merken mußte, daß alle seine heißen Schwüre unbeachtet blieben, richtete er sich hoch auf und schleuderte einen Fluch hin über seine Peiniger: Zum Zeichen seiner Unschuld möge dort für immer der Boden versinken. Und sein Fluch ging in Erfüllung: Das Gelände vor dem Galgenberg kam ins Wandern und wandert noch heute, seine Oberfläche stets verändernd.
Jakob Grimm sagt in seinem Buche die Deutsche Mythologie: "Im Volke ist die Meinung verbreitet, daß aus dem Grabe eines unschuldig hingerichteten weiße Lilien wachsen". Ob aus dem Grabe des auf dem Galgenberg in der Freising unschuldig Hingerichteten weiße Lilien gewachsen sind, meldet die Sage nicht.
Quelle: Sagen und Legenden von Steyr, Franz Harrer, Verlag Wilhelm Ennsthaler, Steyr, 3. Auflage 1980,
ISBN 3-85068-004-5
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.
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