Der Raub der schönen Künhilde
Fürst Biterolf, seine Frau, die Fürstin Dietlinde, Dietleib und seine junge Schwester Künhilde lebten und wirkten mit ihrem Ingesinde auf der schönen Burg zu Steyr, die Biterolf und sein Sohn Dietleib nach der Heimkehr aus der Residenzstadt des König Etzel auf der hohen Felsterrasse am Zusammenfluß der Steyr und der Enns haben erbauen lassen, wie ein uralte Sage uns erzählt.
Am Morgen eines schönen Frühlingstages ging Künhilde, die schöne Tochter Biterolfs, mit ihren Gespielinnen aus der Burg zu Spiel und Tanz unter die grünen und blühenden Linden. Es fehlten auch die jungen Ritter nicht. Spielleute waren auf dem grünen Plan und spielten schöne Tanzweisen, nach denen sich das junge Volk drehte. Unter den Fröhlichen waren auch Fürst Biterolf, etliche Grafen mit ihren Frauen, die den heiteren Spielen mit Wohlgefallen zusahen.
Da kam auf seinem Pferde Laurin, der König der Zwerge, zur Burg Steyr geritten. Auch er sah dem fröhlichen Treiben der Mädchen interessiert zu. Unter den schönen Mädchen sah er Künhilde, welche die schönste und lieblichste von allen war. Sogleich entbrannte er in Liebe zu der schönen Maid. Vermöge seiner Zauberkraft und seiner Nebelkappe, die ihn unsichtbar machte, holte er Künhilde, indem er eine Tarnkappe über sie stülpte, aus der Hut ihres Bruders und einiger Grafen heraus, setzte sie auf ein Pferd und ritt mit ihr nach Tirol; er brachte sie in den fürstlich eingerichteten hohlen Berg, wo König Laurin sie als Königin über sein Zwergenvolk setzte. Niemand hatte den Raub der Fürstentochter bemerkt.
Auf der Suche nach seiner Schwester Künhilde, die auf so geheimnisvolle Art verschwunden war, kam ihr Bruder Dietleib auch zum Rosengarten des Zwergenkönigs Laurin in Tirol. Dort traf er mit den vier Fürsten Dietrich von Bern, Hildebrand, Wittich und Wolfhart zusammen, die er kannte und die seine Freunde waren. Dietrich stand zur selben Stund’ im ungleichen Kampf mit dem Zwergenkönig Laurin, der durch seinen Zaubergürtel Zwölfmännerstärke besaß und sich außerdem mit seiner Tarnkappe unsichtbar machen konnte. Erst als ihm Dietrich von Bern den roten zaubergürtel zerbrach, war der Zwerg machtlos, gab sich besiegt und bat um sein Leben.
Laurin versprach den vier Fürsten Freundschaft und Treue, lud sie ein, mit ihm in den hohlen Berg zu gehen. Wohl warnten Wittichs und Wolfhart vor der Tücke und der Hinterlist König Laurins des Zwerges; um nicht feig zu erscheinen, gingen sie alle hinein in den Berg. Darinnen war einzigartige Pracht und Herrlichkeit; überall funkelte es von Gold und Edelsteinen. Laurin, der Zwerg, ließ den Fürsten ein Mahl bereiten. Bei Wein und Met, bei Harfenklang und Geigenspiel, Gesang und mancherlei Spielen, vom Volk der Zwerge dargebracht, war große Lust und Fröhlichkeit im Berge.
Da kam herein die schöne Künhilde, reich gekleidet, das Haupt geschmückt mit einem goldenen Diadem. Sie grüßte die Fürsten als ihre lieben Gäste. Groß war die Freude, als sie ihren lieben Bruder Dietleib sah, den sie herzlich begrüßte. Sie sagte ihm, dass sie alles im Überflusse hätte, sich aber nach der lieben Heimat sehne. Dietleib sprach, er sei gekommen, sie von hier fort und heim zu bringen.
Laurin der Zwergenkönig ging zu Künhilde, seiner lieben Herrin und klagte ihr sein Leid. Die Recken hätten ihm seine schönen Rosen verwüstet, Dietrich habe ihm den Gürtel zerbrochen, dadurch habe er seine Stärke verloren und könne sich nicht rächen. Sie möge ihm raten, was er tun solle. Sie steckte ihm unter der Bedingung, dass er den Fürsten nicht ans Leben gehe, ein Ringlein an den Finger, mit dem er seine Zwölfmännerstärke wieder hatte.
Laurin ließ sich Dietleib kommen, nannte ihn seinen lieben Schwager und sagte, er wolle seine vielen Schätze mit ihm teilen, wenn er sich nicht der Fürsten annehme. „Nein“, sagte Dietleib, „das tue ich nicht, meinen Freunden werde ich nicht untreu.“ Da sperrte der ränkesüchtige Zwerg Dietleib in das Felsgemach ein. Dann eilte Laurin in den Felsensaal, wo die vier Fürsten beim Mahle saßen, tat ihnen betäubenden Kräutersaft in Wein und Met, dass sie nach einer Weile wie tot auf den Bänken lagen. Dann warf er alle viere in ein tiefes Burgverlies.
Künhilde, die alles beobachtet hatte, erkannte die Gefahr, in der ihr Bruder und die vier Fürsten schwebten. Sogleich eilte sie heimlich zu ihrem Bruder, gab ihm ein Ringlein, damit er die Zwerge sehen konnte, die er, durch Zauber verursacht, nicht hätte sehen können. Künhilde half dem Bruder sich rüsten, sie setzte ihm den Helm aufs Haupt, gab ihm Schwert und Schild. Dann führte sie Dietleib zu dem tiefen Felsverlies, darinnen die vier Fürsten gefangen waren. Er brachte ihnen ihre Rüstungen und die Waffen. Als Laurin das bemerkte, blies er in das Horn, dass es durch den Berg schallte, auf welchen Ruf dreitausend Zwerge kamen, denen er zurief: „Daß ihr mir von den fünf Recken keinen am Leben lasst!“ Während sich die vier Fürsten in Eile rüsteten, kämpfte Dietleib einen harten Kampf mit den Zwergen, von denen viele tot dahinsanken, aber auch er drohte bald zu erliegen. Zur rechten Zeit noch kamen die Recken und griffen, nachdem auch sie von Künhilde Ringlein bekommen hatten, die sie befähigten, die Tausende von Zwergen zu sehen, in den Kampf ein, der vielen Zwergen das Leben kostete. Und als dem Zwergenkönig der Finger, an dem sein Ring stak, abgehauen wurde, verlor er abermals sein Zwölfmännerkraft.
Da stieß der Zwerg in sein Hifthorn; auf diesen Hilferuf kamen fünf Riesen, die dem Zwergenkönig dienten, vom Walde herein in den Berg und griffen mit langen Eisenspießen in den mörderischen Kampf ein. Viele der Zwerge und mit ihnen auch die fünf Riesen wurden erschlagen.
Da sank der Zwergenkönig auf die Knie und bat nicht nur um sein Leben, sondern auch um das Leben seines übriggebliebenen Zwergenvolkes. Erst als die schöne Künhild um das Leben Laurins und seines Volkes bat und auch Dietleib sich der Bitte seiner Schwester anschloß, ließen die Fürsten von dem wilden Streite ab. Sintram, ein treuer Zwerg, wurde von den Recken als König der Zwerge eingesetzt. Der Zwergenkönig Laurin aber wurde gefangen und von den Fürsten nach Bern mitgenommen.
Künhilde bat Dietrich von Bern um Milde für Laurin, den Zwergenkönig. Als sie sich von Laurin verabschiedete, weinte er bitterlich und schrie vor Schmerz über den Verlust der jungen, schönen Fürstentochter Künhilde. Künhilde aber kehrte mit ihrem Bruder Dietleib heim zur Burg Steyr, wo die auf so rätselhafte Weise verschwundene Fürstentochter von ihrem Vater Biterolf und ihrer Mutter Dietlinde mit Freuden empfangen wurde.
So die altdeutsche Sage von der Künhilde, dem Zwergenkönig Laurin, der Fürsten Biterolf und der Burg zu Steyr.
Quelle: Sagen und Legenden von Steyr, Franz Harrer, Verlag Wilhelm Ennsthaler, Steyr, 3. Auflage 1980,
ISBN 3-85068-004-5
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.