Eginhart und Emma
Eginhart, Kaiser Karls des Großen Erzkapellan und Schreiber, der an dem königlichen Hofe löblich diente, wurde von allen im Reiche wert gehalten, aber von Emma, der Kaiserstochter, heftig geliebt. Sie war wohl dem griechischen König als Braut verlobt, doch je mehr Zeit verstrich, desto stärker wuchs die heimliche Liebe zwischen Eginhart und Emma. Beide hielt die schwere Furcht, der Kaiser könne ihre Leidenschaft entdecken und möchte darüber erzürnen. Einmal empfand der Jüngling tiefe Sehnsucht nach der Geliebten, und da er keinem Boten sein Herz offenbaren wollte, ging er bei stiller Nacht zu ihrer Wohnung. Leise klopfte er an die Kammertür, als käme er von dem König gesandt, und wurde alsbald eingelassen. Da gestanden sich die beiden ihre große Liebe und sanken in selige Umarmung. Als der Jüngling bei des neuen Tages Anbruch zurückgehen wollte, woher er gekommen war, sah er, daß dicker Schnee über Nacht gefallen war. Er scheute sich deshalb, ins Freie zu treten, da ihn die Spuren seiner Mannsfüße bald verraten haben würden ... In dieser Angst und Not überlegten die Liebenden, wie ihnen zu helfen sei, und die Jungfrau erdachte sich eine kühne Tat: sie wollte den Eginhart auf ihre Schultern nehmen und, eh‘ es licht wurde, bis nahe zu seiner Herberge tragen, daselbst absetzen und vorsichtig in ihren eigenen Tritten wieder zurückeilen.
In dieser Nacht hatte gerade durch Gottes Schickung der Kaiser nur schlechten Schlaf gefunden, erhob sich bei der frühesten Morgendämmerung und schaute in den Hof seiner Burg hinab. Da erblickte er seine Tochter unter ihrer schweren Last vorüberwanken und nach abgelegter Bürde schnell zurückspringen. Genau sah der Kaiser zu und fühlte Bewunderung und Schmerz zu gleicher Zeit, doch hielt er Stillschweigen. Eginhart aber, der wohl wußte, diese Tat könne in der Länge nicht verborgen bleiben, ratschlagte mit sich, trat vor seinen Herrn, kniete nieder und bat um Abschied, da ihm doch sein treuer Dienst nicht entgolten werde.
Der König schwieg lange und verhüllte seine Gedanken, endlich versprach er dem Jüngling baldigen Bescheid. Unterdessen setzte er ein Gericht ein, berief seine ersten und vertrautesten Räte und offenbarte ihnen, daß das königliche Ansehen durch den Liebeshandel seiner Tochter Emma mit seinem Schreiber verletzt worden sei. Wahrend alle erstaunten über die Nachricht dieses Vergehens, sagte er ihnen weiter, wie sich alles zugetragen und wie er es mit seinen eigenen Augen angesehen hatte. Er bitte jetzo um ihren Rat und ihr Urteil. Die meisten aber, weise und darum mild von Gesinnung, waren der Meinung, daß der Kaiser selbst in dieser Sache entscheiden müsse. Karl, nachdem er alle Seiten der Sache geprüft hatte und wohl den Finger der Vorsehung in der Begebenheit erkannte, beschloß, Gnade für Recht ergehen zu lassen und die Liebenden miteinander zu verehelichen. Alle lobten mit Freuden des Königs Sanftmut, und dieser forderte den Schreiber vor sein Antlitz und sprach ihn also an: „Schon lange hätte ich deine Dienste besser vergolten, hättest du mir früher dein Mißvergnügen entdeckt. Jetzo will ich dir zum Lohne meine Tochter Emma, die dich hoch gegürtet willig getragen hat, zur ehelichen Frau geben.“ Sogleich befahl er, nach seiner Tochter zu senden, welche mit errötendemi Antlitz in des Hofes Gegenwart dem Geliebten angetraut wurde. Auch gab er ihr eine reiche Mitgift an Grundstücken, Gold und Silber; und nach des Kaisers Absterben schenkte ihnen Ludwig der Fromme im Maingau Michlinstadt und Mühlenheim, das jetzo Seligenstadt heißt. In der Kirche zu Seligenstadt liegen beide Liebende seit ihrem Tode begraben. Die Sage erhält dort ihr Andenken und selbst dem nahegelegenen Walde soll Emma, als sie ihn einmal „0, du Wald!“ gerufen hat, den Namen Odenwald verliehen haben.
Quelle: Im Reich der Sage; Otto Wutzel; Oberösterreichischer Landesverlag Linz;
4. Auflage 1958
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