DIE TELLSAGE
Lieder und Chroniken des Schweizerlandes preisen den Tell als den Befreier von hartem und lastendem Druck, als den Schöpfer der Schweizer Freiheit, und in alle Lande ist sein Ruhm gedrungen, lebt ewiglich fort und ist unaustilgbar.
Es war zu den Zeiten, da Kaiser Albrecht von Österreich regierte. Der war ein strenger, heftiger Mann und suchte dauernd sein Land zu mehren. So kaufte er viele Städte, Flecken und Burgen in dem Schweizerland und setzte in dieselben Landvogte ein, die in seinem Namen die Herrschaft führen mußten. Drei Schweizer Städte und Landschaften wollten aber nichts von dem Österreicher wissen, noch haben; da sandte ihnen der Kaiser zwei edle Boten, den Herrn von Liechtenstein und den Herrn von Ochsenstein, die mußten den Orten vortragen, sie sollten sich doch in Österreichs Schutz und Schirm begeben, da könnten sie es mit der ganzen Welt aufnehmen und ihr nutzen. Wollten sie das aber nicht, so werde der Österreicher ihr Feind sein und dann sollten sie nichts Gutes von ihm zu erwarten haben. Auf diese Rede antworteten die Manner von Schwyz: „Liebe Herren, wir wollen dem Hause Österreich gerne in allen Ehren zu Lieb und zu Dienst sein, aber wir möchten doch bei unserer alten Freiheit bleiben, die noch niemalen ein Fürst oder König angetastet hat.“
Auf diese kühne Antwort hin brachen die Herren rasch auf und ritten stracks nach Uri und Unterwalden, dort, dachten sie, würden sie besser empfangen werden. Es kam aber auch hier anders, als sie erwartet, denn die drei Orte hatten sich schon vorher miteinander verbunden und sich verschworen, treulich zusammenzuhalten, sagten auch, daß ihre Freiheit ihnen verbrieft sei von dem Kaiser Friedrich dem Hohenstaufen und Rudolf dem Habsburger. So mußten die Abgesandten allerorten unverrichteter Dinge von dannen reiten.
Bald darauf sandte Albrecht von Österreich zwei scharfe Vogte, die hießen Grißler und Landenberger. Grißler sollte Amtmann zu Schwyz und Uri sein, der Landenberger aber zu Unterwalden regieren in des Kaisers Namen. Sie hatten die Weisung, sich zum Anfang gut und freundlich zu erzeigen, um vielleicht durch Güte das Volk zu gewinnen. Die Schwyzer ließen sich aber nicht betören und bewegen. Da erhielten schließlich die Landvögte den Befehl, den Bauern und Herren alles nur erdenkliche gebrannte Herzeleid anzutun. Schwer mußte das Volk von Stund‘ an unter dem harten Regiment seufzen. Viel schreiendes Unrecht geschah. In ihrer höchsten Not sandten die Schwyzer Klageboten an den Kaiser, der aber ließ diese gar nicht vor sein Angesicht. Darauf wandten sich die Sendboten an des Kaisers Räte und baten sie freundlich und ernstlich, sie sollten dem Mutwillen und der Plackerei der Vögte steuern, sie sollten doch gnädiglich verhindern, daß die Tyrannen mit neuer und unerhörter Schätzung das Volk bedrückten. Aber die Räte gaben zur Antwort: „Ihr Männer seid selber schuld an Eurer Not und an allem Übel. Warum wollt Ihr Euch nicht in unseres Herrn Gnade, Schutz und Schirm geben? Tätet Ihr solches, so hättet Ihr für immer Ruhe und guten Frieden.“ Da kehrten die Abgesandten traurig heim und sagten den Ihrigen die schlimme Botschaft an.
Damals hauste in Unterwalden ein gar redlicher Mann, der niemals Untreue übte, der war dem Landenberger insonderheit verhaßt. Sein Name lautete Heinrich im Melchthal an der Halde. Zu dem sandte eines schönen Tages der Landenberger, der auf Burg Samen saß, einen seiner Fronknechte mit dem Gebot, dem Melchthaler die Ochsen vom Pfluge abzuspannen. Flugs gehorchte der arge Knecht und wollte dem Manne die Ochsen vom Pfluge hinwegführen. Heinrich im Melchthal aber sprach: „Laß ab, meine Ochsen behalte ich. Hab‘ ich was Sträfliches getan, so soll man mich vorfordern und richten.“ — Der Knecht erwiderte: „Bauer, ich handle, wie meines Herrn Gebot ist. Frag ihn selbst um die Ursach‘. Ihr Bauern seid selber Ochsen genug, daß ihr den Pflug mit eigenen Schultern ziehen könnt.“ — Diese lose und freche Rede hörte des Alten junger Sohn, der Arnold hieß. Rasch nahm er einen Stecken und schlug dem Knecht des Landenbergers einen Finger entzwei, daß ihm das Ochsenausspannen verging. Schreiend entwich der Knecht, dem Landenberger die Tat anzusagen, und der junge Arnold im Melchthal mußte auf der Stelle nach Uri entfliehen. Der Landenberger ließ alsbald Heinrich im Melchthal vor sich bringen und begehrte von ihm des Sohnes Aufenthalt zu erfahren. Da nun der Alte entweder nicht sagen wollte oder auch vielleicht nicht wußte, wohin sein Sohn entwichen sei, so ließ der Landenberger dem guten Mann beide Augen ausstechen, nahm ihm sein Gut und trieb ihn ins Elend.
Auf der Burg Roßberg hatte der Landenberger einen Pfleger sitzen, der hieß von Wolffen, das war auch einer von den ganz argen Pressern. Er ritt einstmals zu Konrads von Baumgarten Behausung und traf dort, wie er schon voraus wußte, nicht den Mann, sondern nur dessen schönes und frommes Weib an, zu der er ein sonderliches Gelüsten im Herzen trug. Gleich wie er vom Pferde stieg, rief er sie an, sie solle nach einem Zuber umschauen und ihm ein Bad rüsten, es sei ihm baß heiß geworden von dem starken Ritt. Als er im Bade saß, da winkte er der Frau, sie solle ihm Gesellschaft leisten. Sie tat wirklich, als wolle sie ihm gehorchen, täuschte ihn aber, sie müsse zuvor im anderen Zimmer ihre Röcke ablegen. Kaum war sie aber aus der Stube, so lief sie, was sie laufen konnte, in den nahen Wald, wo ihr Mann Holz schlug. Der hatte gerade Feierabend gemacht, kam ihr mit der Axt entgegen und hörte ihre Klage und Not. Wild und in einer Ehre verletzt, sprach er darauf: „Dem Bader will ich das Bad wohl gesegnen.“ Mit langen Schritten lief er den nächsten Weg seinem Hause zu und traf den Wolffen noch im Zuber, des Weibes harrend. Mit einem, fürchterlichen Axthieb schlug er ihm dermaßen auf den Grind, daß der Kopf in zwei Hälften auseinandergespalten wurde.
Der Landvogt Grißler, der zu Uri saß, hub an, auf einem Bühel über Altdorf eine neue Burg zu bauen, die sollte genannt werden. „Zwing Uri unter die Stegen“, um so recht das Landvolk zu quälen und zu reizen. Weil der Grißler wußte, daß er allem Volke bis in den Seelengrund verhaßt war und weil er richtig mutmaßte, es könnte sich schon eine Verschwörung gegen ihn angesponnen haben, so ließ er mitten auf einem freien Platze, wo jedermann vorüberwandeln mußte, eine hohe Stange aufrichten, mit einem Hute darauf, und gab Befehl, daß jedermann, wer er auch immer sei, dem Hute Reverenz erzeigen solle mit Bücklingen und Hutabnehmen, als ob es er Vogt selbst sei, der im Wege stünde. Daneben ließ er Knechte die Wache halten, die mußten heimlich spüren und aufpassen, wer dieses Gebot mißachte und den Gruß verweigere.
Nach diesem mutwilligen Streich ritt er gen Schwyz und kam über Stein, dort wohnte ein gar frommer Mann, der hieß Werner von Stauffacher; dieser hatte noch nicht lange zuvor ein neues Haus an die Stelle seines alten bauen lassen. Da nun der Vogt vorüber ritt, fragte er barsch, wem dies Haus gehöre. Der Stauffacher wollte recht höflich sein, sagte deshalb nicht, daß es sein Besitztum sei, sondern antwortete: „Meines Kaisers und Euer, Herr Landvogt, ich trag‘s von Euch zu Lehen! Beliebt Euch einzutreten?“ — Aber der Landvogt fuhr den Stauffacher scheltend an: „Ich stehe hier an des Kaisers Statt! Hast du um Erlaubnis gefragt zu diesem Bau? Nein! Und baut ihr Bauern nicht Häuser, als sollten Herren darinnen wohnen? Das will ich Euch wohl wehren!“ — Sprachs und ritt trutziglich weiter. Den Stauffacher schmerzte die böse Rede sehr, aber sein kluges Weib tröstete ihn und riet ihm, er solle sich doch umtun bei seinen vielen Freunden, wie es ihnen ergehe, ob überall so großer Druck und so schwere Drangsal sei und ob sie nicht einen Wandel in dieser Bekümmernis schaffen könnten.
Da ging Werner von Stauffacher gen Uri zu einem Freund, der hieß Walter Fürst. Bei dem fand er Arnold im Melchthal, der sich noch flüchtig hielt, und da ratschlagten die drei Männer miteinander und wurden eins, daß sie noch andere treue und vertraute Freunde aufsuchen wollten. So handelten sie auch und bald entstand ein großer heimlicher Bund, dem viele Bauern und mancher ritterbürtiger Schweizer beitraten, denn die Vögte waren auch den heimischen Rittern aufsässig, nannten sie Bauernadel und adelige Kuhmelker. Als der Bund kräftig aufgerichtet war, erkieseten sie zwölf aus ihrer Mitte als ihren Vorstand, die kamen zusammen und tagten in ihren Sachen auf einer Matte, die man nennt im Rütli am Vierwaldstätter See. Die von Unterwalden gaben den Rat, man solle noch verziehen und zuwarten, weil es schwerfallen werde, in aller Schnelle die festen Plätze wie Samen und Roßberg zu gewinnen. Wolle man sie aber belagern, so gewinne der Kaiser Zeit; ein Heer zu senden, das sie sicherlich aufreiben werde. Man möge lieber die Schlösser mit List gewinnen, niemand töten, der sich nicht bewaffnet widersetze, allen übrigen freien Abzug gewähren und dann die Vesten bis auf den Boden schleifen. Als die Männer so tagten und den Bund beschworen, da entsprangen der Matte heilige Quellen. Alle Welt ehrt heute den Schwur der freien Schweizer am Rütli.
Mittlerweile geschah es, daß ein Mann aus Uri, Wilhelm Tell geheißen, etliche Male achtlos an Grißlers Hut vorüberging und dem Stecken keine Reverenz erwies. Kaum ward das dem Vogt von den Knechten angezeigt, so beschickte ihn der Landherr. Teil aber sprach:
„Ich bin ein Bursmann und vermeint nit, daß soviel an dem Hut lieg‘, hab‘ auch niemalen sonder Acht darauf gehabt.“ — Darob ergrimmte der Vogt erst recht, schickte nach des Tellen allerliebstem Kinde und sprach mit arger List: „Du bist ja ein Schütz weit bekannt und trägst Geschoß und Gewaffen mit dir herum, jetzt zeige ein Meisterstück und schieße deinem Kind einen Apfel von dem Kopfe.“ — Dem Teil erschrak das Herz und er antwortete: „Ich schieße nicht, nehmt lieber mein Leben!“ — „Du schießest, Teil!“ schrie der Landvogt, „oder ich lasse dein Kind vor deinen Augen niederstoßen und dich hinterdrein.“ — Da betete Teil innerlich zu Gott, daß er seine Hand führe und des liebsten Kindes Haupt schirme. Der Knabe war auch tapfer und unverzagt. Er stand an einem Baume still und ruhig und zuckte mit keiner Wimper. Lange zielte Teil, drückte endlich ab und schoß, und traf den Apfel entzwei. Da jauchzte das Volk laut auf und umjubelte den Teil, den meisterlichen Schützen, das verdroß erst recht den Grißler und er schrie den Teil an, der noch einen Pfeil im Koller hatte. „Du hast noch einen Pfeil, Teil, sag an, was hätt‘st du getan, wenn du dein Kind getroffen?“ — Teil antwortete: „Das ist so Schützenbrauch, Herr.“ — „Nein, das ist eine Ausrede“, gab der Landvogt zuruck, „sag es frei, ich sichere dich deines Lebens“ — „Wenn Ihr es denn wissen müßt“, erwiderte nochmals Tel, „und meines Lebens versichert, so höret denn: hätte ich mein Kind getroffen, so wäre dieser Pfeil für Euch bestimmt gewesen.“ — „Ha, du Schalk und Erzbösewicht“, schrie der Landvogt, „das Leben hab‘ ich dir versichert, aber nicht die Freiheit. Ich will dich an einen Ort bringen, wo weder Sonne noch Mond dich bescheinen können.“ Darauf hieß er seinen Knechten, den Teil zu binden und in sein Schiff zu bringen, darin er über den Urner und Vierwaldstatter See fahren wollte. Der weitere Weg war von Weggis nach Küßnacht gedacht.
Gott hatte aber ein Einsehen mit dem Gefangenen und schuf einen Sturmwind und ein schrecklich Ungewitter, daß die Wasser in das Schiff schlugen. Die Schiffsleute verzweifelten an der Führung des Kahns und meinten zum Landvogt, daß nur mehr der Tell helfen könne, denn er sei nicht nur der beste Schütze im Land, sondern auch der sicherste Fährmann. Er allein sei imstande, alle aus dieser Todesnot zu retten. Der Landvogt ließ deshalb den Tell losbinden. Mit starken Händen ergriff der kühne Jäger das Ruder und brachte das Schifflein nach dem rechten Ufer, wo das Schwyzer Gelände sich hinabsenkt und wo ein Vorsprung mit einer Felsplatte in den See hineinragt. Auf diesen Felsen sprang plötzlich der Teil mit einem kühnen Satz, ergriff vorher noch sein Waffen und Geschoß aus dem Boden des Kahnes und stieß das Schifflein mit Gewalt von sich, so daß es hilflos in den Wellen treiben mußte. Darüber erschraken der Landvogt und seine Leute mächtig, Tell aber entfloh eilend auf Pfaden, die ihm wohlbekannt waren, die nur der Jäger wußte. Als die Mannschaft im Schiff auf die Höhe von Laupen kam, legte sich zu ihrem Glück der Sturm und Grißler konnte den Befehl zum Anlegen des Schiffes geben. Heilfroh war er, den unsicheren Planken entfliehen zu können.
Tell wanderte auf Bergpfaden hoch über den Tälern und Niederungen und sah wohl, wohin der Landvogt mit seinen Knechten zog. Vor Küßnacht fand sich eine hohle Gasse, dort harrte Teil des Vogtes. Wie dieser endlich durch die hohle Waldgasse geritten kam, schoß ihn Teil zur Strafe für seinen Übermut und für seine Tyrannei mit dem aufgesparten Pfeil von dem Rosse herab, wie ein Jäger eine wilde Katze vom Baume schießt. Nach solcher Tat entwich der kühne Mann ungesehen von hinnen, kam im Dunkel der Nacht im Lande Schwyz in des Stauffachers Haus zu Steinen, eilte dann durchs Gebirg zu Walter Fürst in Uri und sagte allen an, was und wie es sich zugetragen, und daß es jetzt an der Zeit sei, loszuschlagen und das fremde Joch abzuschütteln. Es war damals nicht mehr weit bis zum neuen Jahre, denn als der Bund von Rütli getagt hatte, war schon Wintermond. Rasch griffen die heldenhaften Bauern zu den Waffen. Zuerst wurde Roßberg mit List eingenommen von den Unterwaldnern, darauf fiel Samen ohne Schwertschlag, alle Leute des Vogtes mußten Urfehde schwören und geloben, nimmermehr wieder in das Schweizerland zu kommen. Mit diesem Gebot wurden sie zur Grenze geschickt. Das noch unfertige Schloß Zwing-Uri wurde wie die anderen Burgen der Erde gleichgemacht. Werner Stauffacher brach schließlich noch das Schloß Louvers, das in den See hineingebaut stand.
Da nun Kaiser Albrecht von diesem gefährlichen Aufruhr die Kunde erhielt, geriet er in großen Zorn, nahm gleich ein Kriegsheer, um die Schweizer zu züchtigen. Aber auf diesem Zuge, da er durch den Aargau ritt und gen Brugg wollte, wurde er von seinem eigenen Neffen, Johann, Herzog von Schwaben, ohnweit Königsfelden meuchlings erschlagen. Darum behielten die Schweizer ihren Frieden und ihre Freiheit bis zum heutigen Tag.
Das ist die Sage von dem Schweizer Bündnis und von dem Tell. Ja, die drei Begründer des Bundes auf dem Rutli galten dem Schweizervolk später in der Erinnerung als drei Teile, die in einer Felskluft verzaubert schlafen, wie Kaiser Friedrich im Kyffhauser und Kaiser Karl im Untersberge. Sollte das Vaterland in Not kommen, so werden die drei Telle aus ihrer Kluft hervortreten und das Land neuerlich befreien. Den Weg zu ihrer Höhle weiß keiner, nur zufällig kam einst ein Hirte, der einer verlaufenen Ziege nachstieg, an eine Höhle, darin fand er die drei Männer, und der Tell richtete sich vom Schlummer auf und fragte „Welch‘ Zeit ist auf der Welt?“ — „Hochmittags“, antwortete der Hirte. — „So ist‘s noch nicht an der Zeit“, sprach der Tell und legte sich zum Schlummer hin. Keiner hat nachher die Felsenluft wieder gefunden.
Quelle: Im Reich der Sage; Otto Wutzel; Oberösterreichischer Landesverlag Linz;
4. Auflage 1958
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.