DIE STEINERNE MAGD

Hildegarde, auch Agatha genannt, aus edlem Geschlechte entsprossen, von den Herzogen von Bayern abstammend und vermählt mit Paul Grafen von Cilli und Markgrafen in Kärnten, lebte im zehnten Jahrhundert, beiläufig von den Jahren 924 bis 1024. Denn das Jahr, in dem Konrad II.‚ der auch Kärnten als sein Land besaß, Heinrich II. in der Würde eines römischen Kaisers nachfolgte, soll das letzte ihres Lebens gewesen sein, nachdem sie ein Alter von beinahe hundert Jahren erreicht hat. Sie bewohnte zu Lebzeiten mit ihrem Gemahle das an der Drau auf einem schroffen Felsen erbaute Schloß Prosnitza.

Ein Bruder des Markgrafen liebte seine schone Schwägerin in übler Leidenschaft. Als der Graf längere Zeit vom Hause abwesend war, gestand er Hildegarden seine sündigen Begierden, die ihn verzehrten, und versuchte alle Mittel, ihre Gegenminne zu gewinnen. Allein seine Bemühungen scheiterten an der unerschütterlichen Treue der tugendhaften Frau, die, nachdem sie ihm sein sträfliches Verlangen strenge verwiesen hatte, sehnlichst der Rückkunft ihres Gatten entgegenharrte, sich mit ihrer Dienerin Dorothea fest in ein Gemach einschloß und ihren gewohnten Andachtsübungen mit doppeltem Fleiße oblag. Die Liebe des Mannes wandelte sich nun in Haß und Rachegelüst. Um dasselbe zu befriedigen, aber auch um der verdienten Strafe zu entgehen, beschloß er, Hildegarden meineidig bei ihrem Gemahle des Verbrechens des Ehebruches zu bezichtigen. Eine Magd, Lupa genannt, ließ sich von ihm verleiten, wider ihre Gebieterin, die sie wegen einer einst empfangenen Rüge haßte, falsch zu zeugen.

Bald nach diesen dunklen Machenschaften kam der Graf zurück. Den Sitten seiner Zeit gemäß erzogen, verstand er nichts, als ein Roß zu bändigen, einen Speer zu werfen und sein gutes Schwert zu führen. Sanftere Gefühle galten damals für Feigherzigkeit. Für mildere Sitten hatten höchstens die Weiber Sinn.

Bei den Männern wechselten Kampfspiele und ritterliche Übungen mit den Vergnügungen der Jagd. Bald zog der Graf mit seinen Knappen und Reisigen aus, um einen unruhigen Nachbar zu befehden oder die Grenzen von einbrechenden Räuberbanden zu säubern; bald verfolgte er den edlen Hirschen oder die kühne Gemse auf den Gebirgen. Er war als ein besonderer Kampfheld berühmt und weit und breit gefürchtet. Sein Gemüt war dafür rauh wie sein Geschäft, leicht aufbrausend und stürmisch wie der Gießbach in seinen Wäldern.
Die Sonne ging eben auf und ihre ersten Strahlen vergoldeten die Gipfel der julischen Alpen, als er, nach den lange entbehrten Umarmungen der Gattin sich sehnend, den steilen Pfad zu seiner Burgveste hinan trabte. Das erste Geschöpf, das ihm aufstieß, war die treulose Magd, die eben ihre Kühe molk. Als er sie rasch fragte, wie es der Gebieterin gehe, säumte sie nicht, den Samen des Argwohns in seine Brust zu streuen. Sie hatte ihre Rede schlau eingerichtet und ließ sich ihr meineidiges Geheimnis nach und nach, wie mit Gewalt, entreißen. Als sie sah, daß die Wut des Grafen schon den höchsten Grad erreicht hatte, schwur sie, daß sie auf der Stelle zu Stein werden wolle, habe sie nicht die Wahrheit geredet. Bebend stürzte der Graf fort. Seiner Sinne nicht mehr mächtig, beschloß er, ohne an eine Untersuchung nur zu denken, die Entehrung seines Namens auf der Stelle zu rächen. Er fand das Gemach seiner Gattin verschlössen, denn die fromme Frau verrichtete eben mit Dorotheen ihre Morgenandacht. Da die Pforten nicht augenblicklich geöffnet wurden, ward er in seinem üblen Verdachte noch mehr bestärkt; er sprengte sie mit Gewalt ein, riß die Gräfin äuf den Boden nieder und mißhandelte sie wie ein Wütender. Er hörte nicht auf Dorotheens Beteuerungen, daß seine Frau ihre Ehe rein und heilig gehalten habe. Ihn rührte nicht die zu seinen Füßen um Gerechtigkeit und Schonung flehende Unschuld. Er warf in seiner maßlosen Wut zuerst Hildegarden und dann Dorotheen von dem Gipfel des Felsens, auf dem die Burg erbauet stand, in den Abgrund hinab.

Doch siehe! Da erschienen drei wunderbare Knaben, schwebend auf goldenen Fittichen, himmlische Lieder singend, welche die beiden Frauen in ihrem Sturze auffingen und sie zwischen jäh abstürzenden Klippen unversehrt niederließen. Wie erstaunte der Graf, als er von dem Fenster niederschaute und dort, wo er blutbefleckte Felsenriffe und zerschmetterte Gliedmaßen zu erblicken glaubte, die Gattin und ihre Dienerin unbeschädigt sitzen sah. Sofort schickte er nach der Magd, deren trügerische Worte ihn zu der übereilten Tat hingerissen hatten, und ein neues Wunder vermehrte sein erschrecktes und bereuendes Erstaunen.

Man fand das Mädchen auf der Stelle, wo sie ihre meineidigen Worte gesprochen hatte, nebst der Kuh, der Milch, dem Milchkübel und Melkstuhle in Stein verwandelt. In dieser Strafe für die böse, falsche Magd erkannte der tief erschütterte Graf den Finger Gottes, sah sein Verbrechen ein und sann heftig nach Mittel, die beiden Frauen von ihrem gefährlichen und unzugänglichen Sitze heil zurückzubringen. Eben da kamen sie aber, umgeben mit einem außerordentlichen Glanze, unter dem Gesange von Hymnen und Psalmen durch die Lüfte geschwebt und nahmen ihre Richtung an das jenseitige Ufer der Drau gegen Stain. Dieser überirdische Glanz raubte ihm das Augenlicht, das er jedoch nach siebenjähriger Irrfahrt im demütigen Kleide als Büßender und nach inbrünstigem Gebete am Grabe der heiligen Apostel in Rom und unseres Heilands im Heiligen Land bei seiner Rückkunft durch das Auflegen der segnenden Hände seiner Gattin wieder erhielt. Er stiftete dann die Kirche zu Möchling, in der er auch, als er endlich seinen Lebenslauf fromm beschlossen hatte, begraben wurde.

Hildegarde überlebte ihn viele Jahre. Seit jenem Tage, an dem sie von der Vorsehung so wunderbar errettet worden war, widmete sie ihr Leben ausschließlich guten und frommen Werken. Was sie besaß, war auch Eigentum der Armen. Sie wusch und reinigte diese mit eigener Hand, bekleidete und speiste sie und entließ sie jedesmal reich beschenkt. Sie stiftete neben vielen frommen Bauten auch die Kirche zu Stain. Damit aber ihr Andenken nicht gar so vergänglich sei wie ihre irdische Hülle, erbaute sie überdies ein Hospital und errichtete aus ihrem Vermögen eine Stiftung, mit welcher jährlich am 5. Februar, als dem Tage der hl. Agatha, die ganze Schar der Armen, die sich zu Stain versammelte, mit Speise und Trank erquickt und mit Brot und Geld beteilt wurde.
Sie entschlief am 5. Februar des Jahres 1024 um drei Uhr nachmittags und wurde in der Kirche zu Stain begraben. An jener Stelle, wo die Felsen ihr Rettung und Leben anstatt des sicheren Todes gegeben hatten, sproßten als weiteres Wunder aus nacktem Gesteine freiwillig und ohne Menschenpflege Lilien und Rosen, wie von der Hand eines Gärtners gepflanzt. Oft sah man seitdem am Vorabende der jährlichen Armenspende eine Frau in weißem Kleide durch das Haus wandeln und die für die Feier des kommenden Tages zubereiteten Vorräte untersuchen.

Quelle: Im Reich der Sage; Otto Wutzel; Oberösterreichischer Landesverlag Linz;
4. Auflage 1958

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