DIE ZWEI WILDSCHÜTZEN
Zweien Wildschützen, die zu Innsbruck in harter Gefangenschaft lagen, sicherte man die Freiheit zu, wenn sie die Bergeshöhle, die zwischen der Stadt und Mühlau liegt, untersuchen würden. Sie nahmen freudig das Angebot an und stiegen in den dunklen Schlund hinein. Zur besseren Sicherheit, daß sie nicht vorzeitig entspringen könnten, besetzte man den Höhleneingang mit Wachen. Nach zwölf Tagen kehrten endlich die beiden Männer, die man schon verloren glaubte und die bei Kitzbühel ans Tageslicht gekommen waren, zurück. Sie konnten Wunderbares und Unglaubliches berichten:
Zwei Tage lang nach ihrem Eintritt in das Bergesinnere hatten sie nicht gewußt, ob es Tag oder Nacht sei, da wegen der feuchten Luft ihre Fackeln verlöschten. Nachdem sie mit großer Mühe und in Angst und Not diese beiden Tage durchgebracht hatten, sind sie in eine ungeheure große Weite gekommen, die wie eine Landschaft mit ferneliegenden Dörfern erschien. Auf einer Straße, die so gerade und so gut wie an der Erdoberfläche angelegt war, schritten sie mutig voran, wobei ihre Windfackeln wieder verlöschten. Sie setzten sich darauf an einem rauschenden Wasser nieder und labten sich an der Quelle mit einem kühlen Trunk und aus ihrem Brotsack mit etwas Speise. Dabei fiel ihnen auf, daß es immer dunkler um sie wurde. Als sie wieder ihre Fackeln angezündet hatten, brachen sie auf und kamen bald zu neuen Abgründen und Klüften. Nie hätten sie gedacht, im Innern des Berges so wunderbare Landschaften zu sehen! Mühsam und ängstlich hielten sie sich auf der Straße und wanderten darauf fort. Da! Plötzlich standen sie vor einem Gebäude, aus dem ein Licht ihnen entgegenschimmerte, aber unheimlich und grausig war daraus auch ein Weinen und Winseln zu vernehmen. Sie näherten sich dem Hause, um durch ein Fenster hineinzuschauen und die Ursache der erbärmlichen Laute zu erfahren, und gewahrten in der Mitte eines Zimmers einen Leichnam von gar kleiner Statur, sorgfältig aufgebahrt; um den Sarg kauerten etliche Leichenweiber, ebenfalls von winziger Größe und Gestalt.
Furcht packte sie über diesen Anblick, und mit Angst und Zittern schlichen sie an dem Gebäu vorüber, bis ihnen endlich ein unscheinbarer, buckliger Zwerg, dem ein grauer Bart bis zum Nabel herabhing und der einen Stab und eine Laterne in den Händen trug, begegnete. Der Wicht begrüßte die Männer freundlich und zuvorkommend und vermeldete zugleich, sie sollten ja darauf achtgeben, nicht in ein Gedränge zu kommen, sonst könnte es ihnen übel ergehen; es sei nämlich im ganzen Lande ein großer Trauertag um den verstorbenen Herrn und Gebieter angesetzt.
Sofort erbot sich auch der Zwerg, ihnen die Wege zu weisen, auf denen sie aller Gefahr ausweichen und entrinnen könnten. Dankbar nahmen sie seine Hilfe an und rüstig schritt er ihnen voraus. Sie mußten sich über sein rasches Fortkommen verwundern, denn im Wandern bemerkten sie, daß seine Füße ganz krumm und eingebogen waren.
Als sie schon einige Zeit gegangen waren, faßte sich einer der Wildschützen ein Herz und fragte den Wicht, in welcher Gegend sie sich denn befänden. Dieser gab darauf zur Antwort: „Ihr seid bei dem unterirdischen Geschlechte, das mit den Bewohnern der Erdoberfläche, mit den undankbaren und unvernünftigen Menschen, keine Gemeinschaft hat. Wir müssen deshalb unsere Arbeiten außerhalb des Berges in der Nacht vollbringen, wobei wir allerdings frommen und guten Menschen in ihrer Not und Plage gerne helfen, soferne man unsere Hilfe will und dankbar annimmt. Wo nicht, wenden wir uns an das Vieh und plagen dasselbe, da wir unseren Unwillen an den Menschen selber nicht auslassen und kühlen können. Fraget nun nichts weiter, ich muß schon zu meinen Arbeiten eilen. Haltet euch nur immer zur linken Seite, so kommt ihr wieder zur Oberwelt! Laßt euch aber niemals mehr einfallen, das Reich der Unterirdischen zu suchen. Wir meiden die Menschen und wollen nicht von ihnen belauscht oder gesehen werden. Übel kann es den Neugierigen ergehen, denn manche Zauberkräfte sind uns eigen.“ Geheimnisvoll und drohend funkelten seine Äuglein bei diesen Worten. Den Männern kam vor, daß sie ganz grün waren. Rasch wandte er sich selbst zur rechten Seite und verschwand. Sie aber zogen die Straße weiter, die er ihnen angegeben hatte. Aus der Ferne beobachteten sie, wie immer mehr kleine Zwerge und Wichte zusammenströmten, mit Laternen in den Händen, die Augen mit Tränen gefüllt und die Mienen in tiefe Sorgenfalten gezogen.
Bald gerieten sie, wie vorher schon, in große Felsenklüfte und dunkle Örter, an denen die Windlichter wieder gute Dienste erwiesen, Diese bewahrten die Wildschützen vor dem Absturz in grausige Tiefen. Der Weg deuchte ihnen gar sehr lange, und hätte ihnen ihr kleiner Führer nicht angesagt, wie sie gehen müßten, so hätten sie jede Hoffnung verloren, jemals wieder an die Oberwelt zu kommen. Oft meinten sie mit Angst und Verzweiflung, in die Irre zu gehen. In tiefe Abgründe ging es hinab, dann wieder steile Anstiege und Felsenriffe hinauf. Wie lange sie auf diese Weise gewandert sind, konnten sie selbst gar nicht angeben, denn die ganze Zeit über waren ihnen Sonne und Mond verborgen.
Endlich, sie waren bereits völlig erschöpft, kamen sie zu einer engen Felsenritze, durch die einige Sonnenstrahlen hindurchleuchteten. Eine Dornenhecke versperrte noch den Weg, mühsam kämpften sie sich durch ihr Dickicht hindurch und waren endlich ihrer Erde wiedergegeben. Am Fuße des Felsens lag eine Ortschaft. Bald erfuhren sie von einem Bauern, daß dies Kitzbühel sei und Innsbruck noch eine Tagereise nach Westen liege. Niemand hat seitdem die geheimnisvolle Höhle betreten. Das Reich der Unterirdischen soll man nicht stören!
Quelle: Im Reich der Sage; Otto Wutzel; Oberösterreichischer Landesverlag Linz;
4. Auflage 1958
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