Das Grab im Traunsee
Oberösterreich
Auf der Seeburg bei Orth am Traunsee lebte einmal ein reicher verwitweter Graf mit seiner Tochter. Er behütete sie wie seinen Augapfel, denn sie war über alle Maßen schön und sein größtes Glück.
Eines Tages brach ein Krieg aus, und auch der Graf musste zum Schwert greifen und in den Kampf ziehen. Um seine schöne Tochter aber während seiner Abwesenheit in sicherer Obhut zu wissen, übergab er sie dem alten Burgvogt von Wolfsegg, dem er unbegrenztes Vertrauen entgegenbrachte.
Der Burgvogt ließ zwar dem schönen Fräulein nur wenig Freiheit, konnte jedoch nicht verhindern, dass es eines Tages auf einem Spaziergang den jungen Ritter von Wartenberg kennen- und lieben lernte, der sein Felsenschloß gegenüber von Traunkirchen am Eingang der Eisenauer Bergschlucht hatte. Als der Burgvogt von der Liebe der beiden jungen Menschen zueinander erfuhr, da zögerte er nicht lange und steckte das Mädchen in das Frauenkloster zu Traunkirchen.
Von dieser Stunde an suchte der junge Ritter von Wartenberg verzweifelt, den Aufenthalt des geliebten Mädchens zu erkunden. Als er endlich erfuhr, dass es sich im Kloster von Traunkirchen befinde, war ihm schon viel leichter ums Herz, denn Traunkirchen lag gerade gegenüber von seinem Schlösschen, am anderen Ufer des Sees; wenn er sich auf den großen Stein am Ufer setzte und über das tiefgrüne, glitzernde Wasser blickte, konnte er das Kloster mit seinen vielen Fenstern, Erkern und Zinnen deutlich sehen.
Seine Sehnsucht, mit dem geliebten Mädchen wieder einmal beisammen zu sein, wuchs von Tag zu Tag. Immer wieder setzte er sich auf den Stein, blickte über den See und dachte nach, wie er zu der Geliebten kommen könne, und dass ihn jemand dabei entdecke.
Eines Abends hielt er es in den Mauern seines Schlösschens nicht länger aus. Er schlich ans Gestade des Sees, stürzte sich rasch entschlossen in die Fluten und schwamm hinüber. Dabei dachte er: Vielleicht habe ich Glück, die Geliebte wenigstens am Fenster ihres Gemaches zu sehen!
Aber auch das Mädchen konnte an diesem Abend keine Ruhe finden. Es ging nicht zur gewohnten Stunde zu Bett, sondern lehnte sich an das vergitterte Fenster und blickte über den See nach jenem Felsenschlucht, an deren Beginn sie das Schloß des jungen Ritters wusste.
Plötzlich sah es, dass etwas mitten durch den mondbeglänzten See näher und näher auf das Kloster zugeschwommen kam. Das Wasser spritzte auf, gluckste und rauschte und formte glitzernde Ringe, die größer und größer wurden und sich in der Ferne glätteten. Bald unterschied das Mädchen ganz deutlich einen Kopf und zwei kräftige Arme, und schließlich sah es einen Mann ans Ufer steigen. Der schlich an die Mauer des Klosters heran, blickte von einem Fenster zum anderen und rief immer wieder leise ihren Namen. Da wusste das Mädchen, dass ihr Geliebter zu ihr gekommen sei. Von Freude überwältigt, rief sie ihm leise zu: „Warte dort unten, ich komme zu dir!“ Und sie schlich aus dem Zimmer, über die finsteren Klostergänge und zuletzt durch ein kleines Pförtchen ins Freie. Dann aber fielen die beiden einander in die Arme und blieben lange in Glück und Liebe beisammen.
Als sie sich wieder voneinander trennen mussten, bat das Mädchen den jungen Ritter: „Komm jede Nacht zu mir! Ich werde immer eine brennende Kerze auf mein Fenster stellen, damit du den Weg über das Wasser leichter findest!“
Beim ersten Morgengrauen nahmen sie Abschied, der Ritter sprang wieder in den See und schwamm fort. Das Mädchen aber blieb noch am Ufer stehen, bis es ihn nicht mehr sah.
Auch am nächsten Abend kam Wartenberg über den See geschwommen, um einige Stunden bei seinem geliebten Mädchen zu sein. Der See war auch diesmal spiegelglatt, und vom andern Ufer leuchtete ihm das Lichtlein entgegen, das das Mädchen in das Fenster gestellt hatte.
Am dritten Abend jedoch ereilte ihn mitten im See ein wilder Sturm. Der peitschte das Wasser so hoch auf, dass es riesige Wellen schlug. Unheimlich tosten und rauschten die Fluten um den kühnen Schwimmer. Immer wieder schleuderte es ihn hoch empor, wirbelte es ihn zur Tiefe und riß es ihn schäumend zum nächsten Wellenkamm. Dennoch kämpfte er unentwegt. Der Sturm blies aber auch das Licht im Fenster des Klostergemaches aus, so dass der Ritter in dem finsteren Brausen, das um ihn war, die Richtung verlor und nicht mehr sah, wohin er schwimmen sollte.
Schließlich verließen ihn seine Kräfte. Er rang nach Luft, sah noch einmal, von einer Woge emporgehoben, den bleichen Schaum der Wellen unter dem schwarzen Himmel, aber keinen rettenden Strand; dann ging die Flut über ihn hinweg, und er musste ertrinken.
Die Geliebte aber wartete Stunde um Stunde, und jede schien ihr eine Ewigkeit. Ihre Sorge um den Ritter ließ sie nicht schlafen. Zeitig am Morgen eilte sie ans Gestade des Sees und sie blickte voll Sehnsucht und Bangigkeit über das Wasser. Plötzlich schrie sie entsetzt auf, denn ein Stück vom Ufer entfernt trieb die Leiche des Ritters langsam an ihr vorüber. Da fasste sie die Verzweiflung und sie stürzte sich in den See.
In der Klosterkirche zu Traunkirchen erinnerte lange Zeit ein Gedenkstein an die beiden unglücklichen Menschen, die im Traunsee ein gemeinsames Grab gefunden hatten.
Quelle: Alpensagen; Max Stebich; Verlagsbuchhandlung Julius Breitschopf jun.; 1958
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.
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