Der Graf von Seisenburg

Am Nordabhang der Almtaler Berge stehen die Überreste der einst prächtigen Seisenburg. An klaren Herbsttagen sieht man von hier weit hinaus bis ins Donautal und hinüber bis zu den Mühlviertler Bergen.

Einst lebte auf dieser Burg ein reicher, aber geiziger Graf. Allnächtlich stieg er mit einer brennenden Fackel hinab in die Kellergewölbe. Dort hatte er in eichenen Truhen, die mit Eisenbändern beschlagen waren, seine Schätze aufbewahrt. Immer wieder zählte er seine Goldstücke. Dies war seine liebste Beschäftigung. Seine gierigen Augen leuchteten beim Schein der Fackel. Ab und zu kicherte er und rieb sich die Hände aus Freude über seinen Reichtum.

Die Bauern haßten den Grafen, denn er war ein hartherziger und ungerechter Herr. Alle Erträgnisse ihrer schweren Arbeit mußten sie ihm abliefern. Er ließ ihnen kaum das Nötigste zum Leben; so war der Hunger ein ständiger Gast der Bauern.

Eines Tages kam der Bauer Georg, dessen kleines Anwesen der Burg am nächsten stand, zum Grafen und sprach: „Herr, meine Frau und meine zwei kleinen Kinder sind schwer krank. Wenn Ihr verlangt, daß ich auch in der nächsten Zeit die ganze Milch abliefere, müssen sie sterben.“

Das Gesicht des Grafen wurde rot vor Wut, und er schrie den Bauern an: „Was kümmert mich dein Weib? Was kümmern mich deine Kinder? Ich brauche die Milch für meine Hunde. Wenn du nicht alles ablieferst, lasse ich dich auspeitschen!“

Der Bauer fiel auf die Knie nieder und flehte: „Habt Erbarmen, Herr!“ Der grausame Graf aber rief seine Hunde herbei und hetzte sie auf den Bauern. Sie rissen ihm die Kleider vom Leib und brachten ihm mit ihren scharfen Zähnen viele Wunden bei. Mit Müh und Not konnte der Ärmste fliehen und so sein Leben retten.

Eines Nachts, als der unbarmherzige Graf wieder zu seinen Schätzen hinabstieg, stolperte er und stürzte über die steilen Stufen in den Keller. Da lag er nun zwischen seinen Schätzen und konnte sich nicht mehr erheben. Mit letzter Kraft rief er nach seinem Diener. Er befahl ihm, seine Hunde zu töten. Sie sollten ihn nicht überleben. Und in ihre Häute mußte der Diener die Schätze des Grafen einnähen; er sollte sie in einer finsteren Ecke des Burghofes vergraben. Niemandem vergönnte er seine Schätze.

Als man den Grafen zu seiner letzten Ruhestätte trug, erhob sich ein furchtbarer Sturm. Er heulte um die Burg. Es hörte sich an, als heulten die Hunde des Grafen. In aller Eile wurde der Graf bestattet.

Es wird erzählt, daß der Schatz des geizigen Grafen noch heute in der Umgebung der Ruine vergraben sei. Manchmal glitzere von weitem das Gold in der Sonne. Wenn man sich aber nähere, sei kein Gold mehr zu sehen.

Quelle: Heimatkundliches Lesebuch, Bezirk Kirchdorf an der Krems
Herausgegeben von einer Arbeitsgemeinschaft des Pädagogischen Institutes des Bundes für Oberösterreich, Verlag Quirin Haslinger, Linz
ISBN keine

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