Die Felsbilder in der „Höll“

Es ist ein klarer Oktobertag. Wir entsteigen zu viert, unser Klassenvorstand und wir drei Buben, der blitzenden Leichtmetallgondel der Wurzeraim-Seilbahn. Sie hat uns in einer Viertelstunde von der Pyhrnstraße heraufgetragen zur Bergstation.

Von der Kuppe aus sehen wir den Teichlboden mit dem gewundenen Band des träge dahinziehenden Wassers. Wir blicken auf das Warscheneck, auf die Seeleiten, auf den Kamm des Mitterberges mit seiner „Steinernen Muttergottes“ und auf die mauergleichen Südabstürze des Stubwieswipfels. Auf den Gipfelgraten liegt der erste Schnee. Die Lärchen stehen golden im Föhnblau, und das Braun des Teichlbodens kündet schon das Nahen des Winters.

Heute sollen wir endlich die uralten Felsbilder in der „Höll“ zu sehen bekommen, von denen wir im Unterricht schon oft gehört haben.

Wir durchschreiten das Almdorf und folgen dem Steig, der hinüberführt zur Filzenalm. Dort, wo die Teichl plötzlich in unergründlichen Tiefen verschwindet, zweigt der streng verbotene Jagdsteig ab hinunter in die „Höll“.

Die „Höll“, dieser Einriß zwischen den Wänden des Stubwieswipfels und des Schwarzecks, ist ein düsterer, unheimlicher Ort. Riesige, moosüberwachsene Felsblöcke füllen den Graben. Sie sind Zeugen vieler Bergstürze. Verborgene Feisspalten mahnen zu erhöhter Vorsicht. Trügerische Moospolster und hohes Farngestrüpp säumen den Jagdsteig. Gestürzte bleiche Baumgerippe liegen kreuz und quer übereinander oder spannen sich gleich Brücken von Fels zu Fels. Es ist nicht ratsam, sie zu betreten; häufig sind sie so morsch, daß der Fuß einbricht und knietief im Moder versinkt. Große Stille umfängt uns, die nur ab und zu vom Warnschrei eines Tannenhähers unterbrochen wird.

Wir steigen weiter abwärts in die Wildnis und stehen vor den geheimnisvollen Zeichen an den Felswänden: ein Männchen in einem Turm, Mühlespiele, Pfeile, Bären- und Hirschköpfe, Leitern und schriftartige Zeichen, Dreiecke, Rauten, Pferde und Reiter, ziehende Hirsche, Radkreuze und Fadenkreuze, Sterne und Näpfchen, Bäume und menschliche Gestalten.

Von Bilderwand zu Bilderwand führt uns der Klassenvorstand und erzählt und erklärt. Auf unsere neugierigen Fragen antwortet er: „Wir wissen nicht, was die Bilder bedeuten und wer die Menschen waren, die diese Bilder in die Felswände geritzt haben. Wir wissen nur, daß dies vor langer, langer Zeit geschehen sein muß. Gewiß ist nur, daß die „Höll“ für die Bilderzeichner ein heiliger Ort war und daß die Bilder etwas mit ihrem Glauben zu tun hatten. Die Wissenschaft bemüht sich, hinter das Geheimnis der Bilder zu kommen. Solche Felsbilder gibt es ja nicht nur in der „Höll“, sondern in sehr vielen Gebieten der österreichischen Alpen. Für die Wissenschaft sind diese Felszeichnungen von allergrößter Bedeutung, weil sie vielleicht vieles enthüllen werden über die ferne und fernste Vergangenheit unserer Heimat.“

Der Fachlehrer zeigt uns an einer Reihe von Felsen die mutwilligen Zerstörungen, die unvernünftige Wanderer den Bildern durch sinnloses Einkritzeln ihrer Namen zugefügt haben. „Jedes zerstörte Bild ist ein unersetzlicher Verlust für die Forschung“, meint unser Klassenvorstand.

Jetzt verstehen wir, was es heißt, Ehrfurcht zu haben vor allen Zeugnissen der Vergangenheit. Wer Ehrfurcht besitzt, läßt diese Zeugnisse unbehelligt, beschädigt und zerstört sie nicht.

Schnell verrinnen die Stunden. Um vier Uhr fährt für uns die letzte Gondel zu Tal, wenn wir den Zug heimwärts noch erreichen wollen. Wir müssen uns beeilen. Kaum bleibt noch Zeit, die Bilder an der Wand der kleinen Höhle zu besichtigen, die die Einheimischen die „Rollende Lueg“ nennen. In ihr ist das Brausen der unterirdisch dahinfließenden Teichl zu hören. Im Höhleneingang liegt ein flechtenbedeckter Block, der einen Teil der Bilder verdeckt. Der Block ist also nach der Anbringung der Bilder in den Eingang gestürzt. Nun zweifeln wir nicht mehr am hohen Alter der Felszeichnungen.

Wir kommen gerade noch zurecht zur Abfahrt und steigen in eine der Gondeln. Das Mahlen der gewaltigen Maschine setzt ein. Rasch sinken wir immer tiefer. Die Berge und ihre Wunder entschwinden unseren Blicken.

Quelle: Heimatkundliches Lesebuch, Bezirk Kirchdorf an der Krems
Herausgegeben von einer Arbeitsgemeinschaft des Pädagogischen Institutes des Bundes für Oberösterreich, Verlag Quirin Haslinger, Linz
ISBN keine

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