Die Inzersdorfer Madonna

In das Tal des Inzlingbaches, an dem Inzersdorf liegt, führt ein schmales, steiniges Sträßchen. An ihm und dem Bach stehen Häuser, größere und kleinere, manche noch alt, andere schon umgebaut. Gelegentlich zweigen zu beiden Seiten kleine Straßen ab. Sie führen zu den Häusern der Bergbauern an den oft steilen Hängen.

An einer solchen Straßenabzweigung steht ein Haus, das einst eine Mühle war. Zu diesem Anwesen gehörte eine Wegkapelle. In ihr stand lange Zeit eine Marienstatue. Sie war mit unschönen Farben bemalt und mit Kleidern angetan. Niemand ahnte, daß sich unter ihnen und der dick aufgetragenen Farbe ein großartiges Kunstwerk verberge. Der Glasmaler des Klosters Schlierbach, Pater Petrus Raukamp, war ein sehr kunstsinniger Mann. Es wird erzählt, daß er die Madonnenstatue entdeckt haben soll. Und das kam so.

Die Gemeinde Inzersdorf erhielt 1926 eine eigene Schule, damit den Kindern der weite Schulweg nach Kirchdorf erspart bleibe. Nun wünschten sich die Inzersdorfer noch ein Kirchlein, denn in eine Gemeinde gehört neben dem Schul- und dem Gemeindehaus auch eine Kirche, und wenn sie nur eine größere Kapelle wäre. In nächster Nähe des Schulhauses stand ein gut erhaltener Kohlen- und Aufbewahrungsschuppen. Er gehörte früher zu einem bachaufwärts gelegenen Hammerwerk.

Unter den Patres von Schlierbach war der Architekt Pater Hermann Julius Hahn. Er wurde ersucht, aus dem Schuppen durch Um- und Zubauten eine größere Kapelle zu schaffen. Und so entstand das Kirchlein zu Inzersdorf.

Aber noch fehlte die Innenausstattung. Für sie sollte Pater Petrus sorgen. Auf der Suche nach einem Marienbildnis entdeckte er in der Wegkapelle im Inzlinggraben die Muttergottesstatue. Nach der Entfernung der Kleider erkannte sein künstlerisches Auge, daß sich unter dem Ölanstrich ein edles Muttergottesbildnis verbergen müsse. Mit Erlaubnis des Besitzers der Wegkapelle kam die Statue in eine Kunstwerkstätte. In mühevoller Arbeit wurden die Farbschichten entfernt, und allmählich kam ein herrliches Kunstwerk zum Vorschein. Nach Wiederherstellung des ursprünglichen Aussehens wurde die Statue im Kirchlein von Inzersdorf aufgestellt.

Bald wurde bekannt, welch kostbaren Kunstschatz das kleine Dorf besitzt. Immer mehr Bewunderer fanden sich ein. Kunstkenner vermuten, daß die Madonnenstatue ungefähr aus dem Jahr 1430 stammen dürfte.

Beim Betreten des Kirchleins erblicken wir auf dem Altar die lebensgroße, aus Lindenholz geschnitzte Statue. Maria steht vor uns als junge, kräftig gewachsene Frau. Das Antlitz der Muttergottes ist wohlgestaltet, Nase, Mund und Kinn sind edel geformt. Die hohe Stirn ist das Zeichen der Weisheit. Die klaren Augen blicken in mütterlicher Güte auf den Beter nieder. Auf dem linken Arm trägt die himmlische Frau das göttliche Kind, in der rechten Hand hält sie einen Apfel.

Seit die Statue der Muttergottes das Kirchlein von Inzersdorf ziert, wird sie die Inzersdorfer Madonna genannt. Der Künstler, der sie vor langer Zeit geschaffen hat, ist unbekannt. Es weiß auch niemand, wie sie in die einsame Wegkapelle gekommen ist. Die Kunstforscher haben wohl verschiedene Vermutungen angestellt, aber eine sichere Beantwortung der Frage haben sie bis jetzt nicht gefunden.

Im Jahr 1965 war im Salzburger Dom eine Ausstellung der „Schönen Madonnen“ aus verschiedenen Kirchen. Unter ihnen war auch die von Inzersdorf. Sie wurde von den zahlreichen Besuchern, und nach Salzburg kommen auch viele aus fremden Ländern, besonders bewundert.

Quelle: Heimatkundliches Lesebuch, Bezirk Kirchdorf an der Krems
Herausgegeben von einer Arbeitsgemeinschaft des Pädagogischen Institutes des Bundes für Oberösterreich, Verlag Quirin Haslinger, Linz
ISBN keine

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