Das Nachtvolk

Vom Nachtvolk oder dem wilden Heer erzählt man sich in Vorarlberg allerlei. So wird berichtet, daß allnächtlich in einem einsam stehenden Hause zu Fastranz das Nachtvolk durch den Flur ziehe. Deshalb muß, auf daß der Weg unversperrt sei, die Vorder- und Hintertür offen stehen; sonst heben die wilden Gäste ein solches Getöse an, daß kein Hausbewohner mehr zu schlafen wagt. Freilich, die Türen schließen in manchem Gehöfte so schlecht, daß der Sturm sie weidlich rütteln kann. Und wenn er dazu heulend und winselnd um die Ecken tobt, dann ist’s kein Wunder, wenn ein furchtsames Menschenkind an durchziehende Unholde denkt, die ihre wilde Wanderung mit Pfeifengeschrill, mit Trommeln und Peitschenknall begleiten. Auf freier Weite schüttelt der Sturm die Baumkronen und wirft schwache Leutchen ins Gras; daher ist heut noch der Aberglaube verbreitet, daß man sich, um dem Nachtvolk zu entrinnen, platt auf den Boden legen oder zumindest sich ducken müsse, wie der Ergebene zum Zeichen seiner Unterwürfigkeit auf die Knie sinkt.

Einmal aber stellte das Nachtvolk im kleinen Walsertale einen lustigen Schmaus am hellichten Tage an. Es führte während des Gottesdienstes, der in der nahen Kirch abgehalten wurde, einem Bauern die schönste Kuh aus dem Stalle, machte sich eilig daran, sie zu schlachten und den Braten zuzubereiten und verzehrte ihn unter Tanz und Jauchzen und lieblichem Saitenspiel. Den Kindern, die im Hause geblieben waren, gab das Nachtvolk freundlich zu essen, verbot ihnen aber, ein Beinlein zu verbeißen oder zu verwerfen. Mach der Mahlzeit wurden alle Knochen gesammelt bis auf einen, der sich trotz allen Suchens nicht finden ließ; dann wickelten sie die Haut des geschlachteten Tieres um die Reste und bemerkten hiebei, daß die Kuh wohl werde hinken müssen.

Als das Volk abgezogen war, stand die Kuh wieder lebend im Stalle wie zuvor, schleppte aber einen Fuß auffällig nach.
Im Montavon kam ein Bauer in einer mondhellen Nacht am Murnertobel vorbei, und weil er müde war, setzte er sich auf einen Stein, zog seine Maultrommel aus dem Sack und spielte sich eins zum Zeitvertreib auf.

Da kam auf einmal das Nachtvolk in langem Zuge durch den Tobel herab und ein schwarzer Gesell trat den Bauer an und sagte: „Hör du, wenn du willst, lehre ich dich so schön spielen, daß die Tannenzapfen ringsum zu tanzen beginnen.“
„Das wär mir schon recht,“ entgegnete der Maultrommler.

Ehe aber der Unterricht begann, kam aus dem Gedränge ein Weib herzu, das zog den schwarzen Gesellen weiter, indem es ihm zuraunte: „Komm, mit dem Bauer ist nichts anzufangen, der hat heut morgen Weihwasser genommen.“
Da bekreuzigte sich der einsame Wanderer und erkannte mit Schrecken, welcher Gefahr er entronnen war.

Quelle: Österreichisches Sagenkränzlein

© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.

 

 
designed by © Norbert Steinwendner, A 4300 St. Valentin