|
Die Spinnerin am Kreuz
Auf dem Rücken des Wienerberges bewundert der Wanderer, der seien Weg über die Triesterstraße nimmt, ein steinernes Denkmal. Es ist eine Kreuzsäule, „die Spinnerin am Kreuz“ genannt. An dieser Stelle, bis zu der sich in alter Zeit der Burgfrieden der Stadt erstreckte, stand einst ein Bildnis der heil Crispinus, des Schutzpatrons der Grenzen, Crispinus- oder Spinnerkreuz genannt, und dieser Name hat sich später in den der „Spinnerin am Kreuz“ verwandelt. Wahrscheinlich bezeichnet dieses Kreuz eine Stätte aus noch viel älterer Zeit, an der unsere Vorfahren schon in den Heidenzeiten ihre Opfer brachten. Darum knüpfen sich so viele Erzählungen an dieses Wahrzeichen. Die lieblichste davon ist folgende:
Zur Zeit der Kreuzzüge schlossen sich viele tapfere Wiener Bürger dem Kreuzheere an und zogen ins Heilige Land, um Christi Grab aus den Händen er Ungläubigen zu befreien.
So war auch ein Bürger mitgezogen, dem weinend sein Weib das Geleit bis auf die Höhe des Wienerberges gegeben hatte, wo damals ein hölzernes Kreuz stand. Lange sah sie dem Scheidenden nach, und auch, als der letzte Krieger ihrem Blicke entschwunden war, kehrte sie nicht zur Stadt zurück, sondern gelobte, an der Stelle des hölzernen Kreuzes ein steinernes Denkmal zu errichten, auf daß Gott ihren Mann glücklich wieder heimkehren lasse. Und da sie nicht reich war, setzte sie sich an den Fuß des Kreuzes und spann Tag für Tag. So vergingen Wochen, Monate und Jahre; die junge Frau spann und wurde nur „die Spinnerin am Kreuz“ genannt. Als den Leuten ihre fromme Absicht bekannt geworden war, kauften sie gern ihr Gespinst, ohne zu feilschen.
Der Schatz mehrte sich und der Bau konnte beginnen. Aber schon war die Säule vollendet und noch immer saß die Frau wartend und spinnend dort. Endlich nach vielen Jahren näherte sich eine bewaffnete Schar; ein Mann sprang aus ihrer Mitte und schloß die Frau jubelnd in seine Arme. Es war der brave Wiener, der tapfer am Jordan gekämpft hatte und in die Gewalt der Feinde geraten war. Lange, lange Jahre hatte er im fernen Morgenlande Ketten getragen und Knechtesdienste geleistet, bis es ihm gelang, zu entkommen und sich einem heimziehenden Kreuzheere anzuschließen.
Glücklich kehrten beide Gatten, nachdem sie an dem Kreuze ihr Dankgebet verrichtet hatten, in die Stadt zurück.
Nach Bermann.
Quelle: Österreichisches Sagenkränzlein
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.
|
|