Die Totenglocke zu Wiener Neustadt
Es sind nun viele Jahrhunderte her, da kam ein reicher Handelsherr nach Wiener Neustadt und nahm bei einem ihm wohlbekannten Bürger Herberge. Als er wieder abreiste, bat er ihn, ihm einige Klumpen Kupfer bis zur Rückkehr aufzubewahren.
Bald nach der Abreise des fremden Kaufmannes sollte eine neue Glocke gegossen werden; doch war in der Stadt nicht genug Metall vorhanden, so gern auch die Bürger das Geld dafür hergegeben hätten. Jener Hauswirt eröffnete nun dem Rate der Stadt, er habe im Hause zwar Kupfer genug, jedoch nur als anvertrautes Gut. Da bewogen ihn die Ratsherren, das Metall zum Gusse abzuliefern, und versprachen, den Fremden bei seiner Rückkehr durch bare Bezahlung zufriedenzustellen.
Der Kaufmann kehrte wirklich bald darauf zurück, foderte sein Kupfer und wurde vom Hauswirte an den Rat gewiesen. Hier wurde ihm erzählt, was geschehen war. Sichtlich unzufrieden begehrte der die Glocke zu sehen und bereitwillig geleiteten ihn Hauswirt und Ratsherren zum Glockenhause. Aufmerksam betrachtete er die Glocke. Plötzlich sagte er zu seinem Wirte:
Wisset, daß ich euch nicht unedles Metall, sondern, in jedem Kupferklumpen verborgen, einen reichen Schatz von lauterem Gold aufzubewahren gab. Vergütet, wenn ihr es vermöget, den unschätzbaren Verlust!“ Die Räte schwiegen verlegen; denn der Stadtschatz war nicht groß. Endlich begann der wackere Handelsmann von neuem: „Was geschehen ist, ist geschehen.
Ich erlasse euch den Ersatz; doch fordere ich, daß die teuere Glocke fortan zu jedermanns Begräbnis geläutet werde ohne Bezahlung.“
Überfroh nahmen die Herren das Anerbieten an und also wurde die Glocke geläutet für arm und reich und ihr heller, schöner Ton hat manchen Einwohner der uralten Stadt, vom Bürgermeister bis zum Bettler, ins Grab nachgeklungen.
Quelle: Österreichisches Sagenkränzlein
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.
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