Der Schatz im Berge

Alljährlich am Heiligen Abend kam ein ärmlich gekleidetes Männchen mit einer Rückenkraxe (Rückentrage) und einer Rute in der Hand nach Leonstein im schönen Steyrtal. Mit einem freudigen Lächeln sah es immer hinüber auf den steil 1266 Meter aufragenden Gaisberg, der sein steinernes, weißgraues Spitzhaupt, von der Abendsonne beleuchtet, in den Himmel reckte. Das Männchen verweilte hier aber nicht lange, sondern wanderte weiter und auf der langen Brücke über die tief unten in der Schlucht rauschende grüne Steyr nach dem lieblichen Dorfe Molln. Übersetzte dann die eilig der Steyr zufließende krumme Steyrling und kehrte beim Gaisbergbauern ein.

Es aß dann dort mit den Leuten das Nachtmahl und blieb auch im Haus über Nacht. Der Bauer und seine Leute wunderten sich wohl über sein alljährliches Erscheinen am Heiligen Abend, fragten aber nicht weiter, was es hier um diese Zeit im Mollnertal zu tun habe. Am nächsten Morgen schulterte das Männchen seine Rückenkraxe, ging aufwärts über eine Wiese zu einer Felsenwand und klopfte mit seiner Rute dreimal daran. Durch den sich öffnenden Felsen trat es in eine sonst keinem Menschen bekannte Höhle. Ungeheure Mengen von Edelsteinen funkelten und glänzten und gleißende Goldzapfen hingen darin. Davon nahm sich das Männchen, soviel es brauchte. Als es die Höhle verließ, schloss sich die Steinwand von selber und das Männchen mit seiner Kraxe ging davon.

Nun begab es sich, dass der Gaisbergbauer eines Grundstreites wegen, den er mit einem Nachbar hatte, einen Rechtsanwalt brauchte. Und so machte er sich auf den Weg in die nächste Stadt. Als er durch eine der Gassen der Stadt ging, rief aus einem Fenster ein Herr auf ihn herab: „Gaisberger, Gaisberger, komm ein wenig zu mir herauf!“ Erstaunt schaute der Bauer zu dem Herrn hinauf, der ihm aber ganz unbekannt war. Er ging aber doch hinauf und sah den Herrn mit großen Augen verwundert an. „Grüß Gott, Gaisberger“, rief der kleine Herr freudig aus, „kennt ihr mich denn nicht mehr? Hab so oft gegessen, getrunken und geschlafen bei euch?“ „Nein, Herr“, sagte der Bauer, „ich kenn euch nicht“. Der Fremde ging in ein Nebenzimmer und kam nach einer Weile in ärmlicher Kleidung, die Kraxe auf dem Rücken und die Rute in der Hand, heraus. „Ja“, rief der Bauer voll Freude aus „jetzt kenn’ ich euch wieder, Grüß Gott!“

Als Lohn für seine alljährliche Bewirtung gab der Herr dem Bauern die Wunderrute, bezeichnete ihm genau die Stelle am Felsen und sagte: „Mit dieser Rute klopft dreimal an die Felsenwand, die wird sich öffnen; in der Höhle werdet Ihr Edelstein finden und Goldzapfen herabhängen sehen wie im Winter die Eiszapfen; davon könnt ihr nehmen. Nehmt aber ja nicht mehr, als ihr braucht!“

Voll Freude ging der Gaisberger mit der Rute nach Hause. Gleich am nächsten Tage in aller Frühe ging er hinauf zum Felsen, schlug dreimal mit der Rute an die Wand, die sich sofort öffnete. Er fand alles so, wie ihm der Herr gesagt. Die gleißenden Goldzapfen, von denen er sich einige abbrach, versetzten den Bauern in einen Goldrausch. Eilig ging er, die Mahnung des Herrn nicht achtend, nach Hause um das Ochsenfuhrwerk. Als er damit zum Felsen kam, war er verschlossen. Und weil er in seiner Goldgier die Rute in der Höhle weggelegt und vergessen hatte, war es ihm nicht mehr möglich, das Tor zum Reichtum zu öffnen; es blieb zugeschlagen.

Quelle: Sagen und Legenden von Steyr, Franz Harrer, Verlag Wilhelm Ennsthaler, Steyr, 3. Auflage 1980,
ISBN 3-85068-004-5

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