Der wilde Mann

Der wilde Mann ist von starkem und großem Körperbau, trägt einen breiten Hut auf dem Kopfe un jagt in Begleitung dreifüßiger Hunde in den Dämmerungs- und Nachtstunden durch Wald und Busch. Seine Füße sind klein, die Stimme kräftig und rauh. Begegnet ihm jemand nachts auf offener Straße, so muß er, wenn er unbehelligt davonkommen will, sich aufs rechte Wagengeleise legen.

Unfern dem Millstättersee lebte ein Holzknecht, der mit dem Manne innige Freundschaft geschlossen. Diesem pflegte der wilde Mann als Zeichen seiner Gunst häufig warme Milch zu überbringen mit den Worten: „Freund, ich verlange von dir, daß auch du mir zu gelegener Zeit dich gefällig erweisest.“ Eines Tages kam nun der wilde Mann in aller Eile zum Holzarbeiter und sprach: „Laß alles stehen und geh‘ eilends mit zum Millstättersee.“ Der Knecht folgte. Als beide zum See kamen, sprach der wilde Mann zu seinem Begleiter: „Höre, der Wassermann in dem See hat mir mein Weib geraubt und ich gehe es jetzt holen. Merke also, wenn du einen „Brüller“ aus dem See hörst (dieser soll Dir als Zeichen dienen, daß es mir im Kampfe mit dem Wassermann übel ergeht), so mache du zwei „Wispler“, auf daß mir mein Bruder zu Hilfe kommt.“ Bald nach dem Abgange des wilden Mannes in den See fing das Wasser furchtbar zu rauschen und zu wogen an und es währte nicht lange, so vernahm der Knecht aus der Tiefe einen „Brüller“, worauf er zwei Wispler machte. Auf das Zeichen erschien im Nu der zweite wilde Mann, der noch furchtbarer aussah als der erste. Voll Wut sprang er in den See, in dem sich nun ein Kampf entspann, von dessen Hartnäckigkeit das blutrot gefärbte Wasser Zeugnis gab und der damit endete, daß die beiden Männer siegesbewußt mit dem geraubten Weibe am Ufer des Sees erschienen.

Quelle: Kärntner Sagen; Franz Pehr; Verlag von Joh. Heyn in Klagenfurt; 1913

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