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Die Geschichte von den Karpfen und Störchen
Ein Schneider hat um Neujahr herum einen GeseIlen gehabt. Es war damals wenig Arbeit, aber er hat ihn doch nicht gern fortschicken wollen, weil er fleißig gewesen ist. Wie sie nun eines Morgens so beisammensitzen und die Nadel laufen lassen, sagt der Meister: "Heute mittag gibt's Karpfen!“ Als aber dann das Mittagessen gekommen ist und es einen anderen Fisch gegeben hat, da hat der Gesell gemurrt: "Das sind ja bloß kleine Backfische!" Der Meister ist aber dabeigeblieben: "Nein, das sind Karpfen!" Aber der Gesell hat auch nicht nachgegeben und sein Recht behauptet und wieder gesagt: "Es sind Backfische!" Da ist der Schneider zornig worden und fährt ihn an: "Gleich sagst, es sind Karpfen, sonst ist Feierabend!" Der Gesell hat natürlich um diese Jahreszeit nicht fort wollen und gibt deshalb jetzt zu: "Meinetwegen, es sind Karpfen, aber kleine!" –
Wie nun Ostern gekommen und viele Arbeit dagelegen ist, hat der Gesell gedacht: Jetzt will ich's wettmachen! Draußen vor dem Fenster haben in der Frühlingssonne ganze Schwärme von Spatzen herumgelärmt und sind hin und wieder auf das Dach vor ihnen geflogen. Da hat er mit dem Finger hinaufgezeigt und gesagt: "Guckt einmal, Meister, was da für ein Haufen Störch' gekommen ist!" "Das sind ja Spatzen!" hat der gelacht. "Nein, es sind Störche!" behauptet der Gesell unverfroren. Da ist der Meister böse geworden und hat geschimpft: "Ich glaub', du hast den Star! Da, sieh doch mal hin, das sind doch Spatzen!" Der Gesell aber spricht nun kalt: "Gleich sagt Ihr, es sind Störche; sonst ist Feierabend!" Jetzt hat der Meister begriffen, und weil er den Gesellen um diese Zeit notwendig gebraucht hat, antwortet er: "Meinetwegen, dann sind's Störch', aber kleine!"
Quelle: Schelme und Narren; Josef Pöttinger; Verlag Ferdinand Ertl Wien; 1941
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.
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