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Die Leinenweber und der Igel
Die Schneider neckt man mitunter noch mit dem Geißbock, in frühen Zeiten geschah dies den Leinenwebern mit dem Igel. Wie sie nun zu dem stacheligen Tier gekommen sind, weiß man besonders zu Kassel zu erzählen, wo sich folgende ulkige Geschichte zugetragen hat.
Alljährlich pflegten die Leinenweber in dieser schönen Stadt zusammenzukommen, um ihren Zunftmeister zu wählen. Nun trug es sich zu, daß ein junger Weber zum erstenmal daran teilnahm, der den Vorgang bei der Wahl darum nicht kannte. Der junge Mann hielt nicht wenig auf sich selbst, und da er auch recht fürwitzig war, so fragte er im Saale den nebensitzenden Zunftbruder, auf welche Weise denn der neue Zunftmeister eingesetzt werde. Der Nachbar erkannte sofort, daß er es mit einem eingebildeten Tropf zu tun habe, der sich hervortun wolle. Daher entgegnete er ihm, es sei seit alters her der Brauch, daß dem neugewählten Zunftmeister zur Pflicht gemacht werde, einen Igel das ganze .Iahr hindurch zu halten und zu füttern. Am nächsten Wahltag müsse er aber zu Kassel mit dem Igel erscheinen und ihn, wenn alle Leinenweber im Saale rings um den großen Tisch herumsäßen, darauf setzen. Nun habe das stachelige Tier freie Wahl, sich dem einen oder andern Zunftbruder zuzuwenden. Bei dem er dann stehenbliebe, der würde dann in das Amt des neuen Zunftmeisters eingeführt werden. Während dieses Vorganges dürfe sich jedoch keiner rühren und muß auch unterlassen, den Igel durch Winken oder Pfeifen an sich heranzulocken. Der junge Mann ließ sich ruhig diesen Bären aufbinden, und allenthalben wußte er zu plaudern, wie die Leinenweber ihre Meister wählten und weshalb sie ungern hörten, mit dem Igel gehänselt zu werden.
Quelle: Schelme und Narren; Josef Pöttinger; Verlag Ferdinand Ertl Wien; 1941
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.
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