Die Ulmer Spatzen

Im Münster zu Ulm ist ein seltsames Wahrzeichen zu erschauen, das den Bewohnern der Donaustadt den Spitznamen "Ulmer Spatzen" eingetragen hat. Es ist dies ein in Stein gehauenes Spätzlein, das so dargestellt erscheint, wie es gerade einen Strohhalm ins Nest schiebt; daran knüpft sich folgender Schwank.

Als man in Ulm vor alters daran ging, den Münsterturm zu bauen und Holz zum Gerüst benötigte, zogen Zimmerleute hinaus vors Stadttor in den nahen Wald und fällten zuerst einen gewaltigen Baum. Nachdem sie ihn zu einem Balken zubehauen hatten, hoben ihn sechs Männer mit großer Mühe auf ihre Schultern. Um nun recht sicher damit gehen zu können, trugen sie ihn nicht der Länge nach, einer hinter dem andern schreitend, sondern der Quere nach, wobei einer neben dem anderen gehen mußte. Ihnen folgten jedoch noch sechs Männer, hinter jedem Träger einer, um ihn abzulösen, wenn er müde werden sollte. So schritten sie bedächtig dahin. Als sie nun vor dem Stadttor standen, rissen sie Augen und Mäuler auf, denn sie sahen, daß das Stadttor viel zu schmal war, um mit dem Balken der Breite nach hinein- zukommen. Jetzt war guter Rat teuer und sie zerbrachen sich lange Zeit den Kopf, wie sie es anstellen sollten, um doch durch das Tor zu gelangen. Während sie nachdachten und beratschlagten, riet ein besonders Schlauer, ein Stück des Balkens abzusägen, vielleicht wäre man dann aus der Verlegenheit. Jedoch dieser Vorschlag wurde nach reifer Überlegung verworfen, denn der Balken würde zum Gerüstbau nicht mehr verwendet werden können, weil ihm die vorgeschriebene Länge dann fehle. Einleuchtender war ihnen der Rat, das Tor von der Stelle zu bringen. Aber es stand so felsenfest, daß es sich nicht rücken ließ. Da dachte man daran, vom Stadttor rechts und links so viel wegzureißen, um es zu verbreitern und so den Balken hindurchschieben zu können. Lange stritt man darüber, dann kam man wieder davon ab, als einer einwendete: "Kinderlein, wie dürften wir das tun, ohne erst den Rat der Stadt zu befragen, denn nur der hat das Recht, über ein städtisches Bauwerk zu beschließen. Ehe der aber zusammenkommt und über eine so hochwichtige Sache entscheidet, können Wochen vergehen, und solange werden wir hier nicht mit dem Balken stehen bleiben." Das war durchaus richtig. Das Tor zu verbreitern ging also nicht an und die Bürger, welche sich bereits um den Balken und seine Träger zu versammeln begannen, konnten ihm nur zustimmen. Nun standen sie verdutzt da und der Münsterbau begann zu stocken.

Es wurde jedoch der Stadt zum Glück, daß sie in ihren Mauern einen Gelehrten beherbergte. Zur selben Stunde trug es sich zu, daß der weise Mann einen Spaziergang ins Freie machen wollte und dabei zum Stadttor kam. Dort sah er einen kecken Spatzen durch das Tor daher- geflogen kommen, der einen Strohhalm in seinem Schnabel trug, den er zum Nestbau verwenden wollte. Der Halm ließ sich aber der Quere nach nicht ins Nest schieben und blieb heraußen, so wie der Balken vor dem Tore. Jedoch der pfiffige Spatz wendete den Halm mit der Spitze zum Nest herum und schob ihn mit seinem Schnabel leicht hinein. Der Gelehrte machte nun den Leuten den Vorschlag, dem Beispiel des Spatzen zu folgen und den Balken der Länge nach ins Tor zu tragen. Man machte den Versuch, die Ablösungsmänner traten unter den Balken, aber anders herum als die ersten Träger, und siehe da, nun ging die Sache ganz glatt, der Balken kam glücklich durch das Tor zum Bauplatz des Münsters.

Seitdem aber nennen boshafte Zungen die Ulmer spottweise "Spatzen" bis auf den heutigen Tag.

Quelle: Schelme und Narren; Josef Pöttinger; Verlag Ferdinand Ertl Wien; 1941

© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.

 

 
designed by © Norbert Steinwendner, A 4300 St. Valentin