DER KNABE UND DER WOLF

Es war einmal ein kleiner Waisenknabe. Ein Bauer nahm ihn mit in sein Haus. Der Bauer war geizig, aber er besaß ein Pferd, nur ein einziges, und das sollte der Knabe auf die Weide führen und hüten.
Als der Knabe mit dem Pferd auf der Wiese war, rief er zum Wald hinüber:
„Wölflein, Wölflein, ich bitte dich, friß nicht mein Pferdchen auf.“ Dann band er sich das Halfter um den Fußknöchel, legte sich ins Gras und schlief ein, denn er war sehr müde.
Die Nacht kam, da schlich sich der Wolf heran und fraß das Pferd, und als der Knabe erwachte, war das Halfter leer.Weinend lief er zu seinem Herrn. „Wo hast du das Pferd gelassen?“ fragte der gleich.
„Wehe mir! Der Wolf hat es gefressen“, klagte der Knabe.
„Wenn der Wolf das Pferd gefressen hat, so soll er auch dich fressen“, schrie der geizige Bauer.
Am Abend führte er den Knaben auf die Wiese, band ihn an vier Holzpfählen fest und ging nach Hause. Der Knabe weinte bitterliche und rief Gott um Hilfe an.
Als das Käuzchen um Mitternacht schrie, hörte er menschliche Stimmen und rief:
„Leute, Leute, errettet eine christliche Seele!“
Die Räuber kamen herbei und banden ihn los.
„Was werden wir mit ihm anfangen?“ fragte einer den andern.
„Er soll unser Feuer schüren und den Spieß drehen“, sagte der Anführer, und so nahmen sie den Knaben mit in die Berge.
Er war lange bei ihnen und es ging ihm gut. Er war folgsam und ordentlich und bediente sie alle gern. Schließlich aber mußten die Räuber weiterziehen, aber den Knaben wollten sie nicht mitnehmen. Da sie fürchteten, daß er ihnen nachlaufen und sie verraten könnte, steckten sie ihn in ein großes Faß, gaben ihm für viele, viele Tage Vorräte an Speise und Trank hinein, füllten seine Taschen mit Geld, dann nagelten sie das Faß zu, hoben es in das Geäst eines Baumes und gingen ihrer Wege.
Der Knabe mußte zwar keinen Hunger leiden, aber es war ihm doch bange, wenn er daran dachte, wie es werden würde, wenn niemand käme, ihn aus dem Faß zu befreien.
Er saß wohl schon ein paar Tage da oben, da witterte der Wolf den guten Braten. Er lief herbei, schlich um den Baum herum und erblickte das Faß. Gleich erklomm er den Stamm, schnupperte am Faß herum und kam zu dem Luftloch, das die Räuber gemacht hatten, damit der Knabe nicht ersticke. Er versuchte mit dem Kopf durchzukommen, aber der Kopf war zu groß.
Von vorn komm ich nicht hinein, dachte der Wolf, vielleicht gelingt es von hinten. Und so steckte er seinen Schweif durch das Luftloch.
„Das ist der Wolf“, dachte der Knabe und umklammerte mit beiden Händen den buschigen Schwanz. Der Wolf erschrak und sprang vom Baum herunter. Der Knabe aber ließ nicht los, so flog das Faß mit zur Erde nieder und zerbrach und jetzt erst lockerte der Knabe den Griff seiner Hände. Der verschreckte Wolf stürzte davon, ohne sich umzusehen.
Der Knabe war frei. Er hatte die Taschen voll Geld und auch noch zum Essen und trinken genug.
„Jetzt bin ich reich“, rief er fröhlich aus, „jetzt muß ich nicht mehr Pferde hüten!“
Er ging aus dem Wald, kam in ein Dorf und dort wurde aus ihm ein reicher Bauer.

Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944

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