DER HEXENMEISTER

Es war einmal ein alter Mann, der hatte einen Sohn. Da er aber nicht nur alt, sondern auch ganz arm war, beschloß er, seinen Sohn irgendwohin in die Lehre zu geben. Er ging mit ihm auf die Suche nach einem guten Meister und kam unversehens vor die Felsenhöhle eines alten Mannes, der in einem großen Buch las. Das aber war ein Hexer.
„Wohin geht ihr?“ fragte der Hexer.
„Ich suche einen guten Meister für meinen Sohn“, sagte der alte Vater.
„Laß ihn bei mir“, schlug der Hexer vor, „bei mir kann er allerlei lernen. Aber was gibst du mir für die Lehre?“
„Ich bin ganz arm und kann nichts zahlen“, sagte der alte Vater.
„Gut, dann mach‘ ich es umsonst“, sagte der Hexer. „In sieben Jahren kannst du ihn holen, deinen Sohn, aber nur dann darfst du ihn mit dir nehmen, wenn du ihn erkennst. Erkennst du ihn nicht, gehört der Junge für alle Zeiten mir.“
„Was wäre das für eine Sache, wenn ich mein Kind nach sieben Jahren nicht mehr erkennen würde“, lachte der Vater, verabschiedete sich und ging heim. Er mußte allerdings immer öfter daran denken, was der unheimliche Mann im Walde mit seinen Worten eigentlich gemeint haben mochte, und schließlich befiel ihn die Angst, es könnte vielleicht doch so kommen, daß er in sieben Jahren seinen Sohn nicht mehr erkennen würde.
Nun aber lassen wir den Alten und schauen wir uns nach dem Sohn um.
„Kannst du lesen?“ fragte der Hexer seinen jungen Gehilfen.
Wahrlich, der Junge mußte gestehen, daß er es nicht könne.
„Dann habe ich die richtige Arbeit für dich“, sagte der Hexer und führte ihn in eine Grotte. In der waren zwei Zimmer. In einem sah der Knabe einen Tisch, gedeckt für zwei Personen, und das Essen war vorbereitet. Das zweite Zimmer war voll von Büchern.
„Diese Bücher mußt du immer vom Staube frei halten“, sagte der Hexer, „und wenn du einmal Langeweile hast, dann läute diese Glocke, und gleich werden Knaben bei dir sein und mit dir spielen.“ Dann setzten sie sich zu Tisch, und als sie gegessen hatten, ging der Hexer fort. Der Knabe aber begann die Bücher abzustauben.
Tag für Tag tat er die gleiche Arbeit, und allmählich wurde es ihm recht langweilig dabei. Aber er läutete nicht die Glocke, sondern öffnete ein Buch nach dem andern und schaute so lange hinein, bis er langsam das Lesen erlernte.
Dabei erlernte er aber auch aus den Büchern die Zauberkunst des Hexers.
Als der Hexer nach einem Jahr zurückkehrte und die Bücher so sauber fand, lobte er den Knaben und gab ihm einen Dukaten. Der Junge bat, dieses Geld seinem Vater bringen zu dürfen, und der Hexer erlaubte es.
Freudig lief der Sohn nach Hause und fand den alten Vater auf der Bank beim Ofen sitzen.
„Ach, Vater, warum schaut ihr so traurig drein?“ fragte der Sohn.
„Ich habe Angst“, antwortete der alte Mann, „daß ich dich nach sieben Jahren nicht erkennen werde.“
„Sorgt euch nicht, Vater“, sprach der Sohn. „Wenn Ihr um mich kommt, wird der Hexer mich in eine Taube verwandeln und ich werde mit anderen Tauben auf dem Dach sitzen. Schaut Euch die Tauben gut an, Vater, und wenn Ihr eine seht, die die Flügel hängen läßt, so wißt Ihr, daß ich es bin, und braucht nur auf diese Taube zu zeigen.
Da beruhigte sich der alte Vater und der Sohn kehrte zum Hexer zurück.
Kaum war er da, so ging der Hexer wieder auf weite Wege, und der Knabe bleib bei den Büchern allein. Er reinigte sie wie früher und las weiter fleißig darin.
Der Herr war jedesmal, wenn er von seiner Reise wiederkehrte, mit seinem Lehrling sehr zufrieden.
Sieben Jahre vergingen auf diese Art. Und eines Tages kam der alte Vater zum Hexer.
„Da bist du ja“, sagte der Hexer. „Nimm dir deinen Sohn, wenn du ihn erkennst. Dort auf dem Dache sitzt er unter anderen Tauben.“
Der Alte stützte sich auf seinen Wanderstab und sah die Tauben aufmerksam an. Da sah er, wie eine Taube die Fügel hängen ließ.
„Der ist mein Kind“, sagte der Vater und zeigte auf diese Taube.
„Wahr, wahr, du hast es erraten“, sagte der Hexer und war sehr ärgerlich. „Aber mitnehmen kannst du ihn nicht gleich. Ich muß ihn erst wieder zum Menschen machen. Geh nach Hause, ich schick dir den Jungen nach.“
Was sollte der Alte tun? Er mußte gehorchen, obwohl es ihm recht schwerfiel.
Der Hexer aber hatte gar nicht die Absicht, seinen Gehilfen herzugeben, und wer weiß, wie schlimm es dem Jungen ergangen wäre, hätte der nicht aus seines Meisters Büchern die Zauberkunst erlernt. So konnte er sich helfen. Als der Hexer das Haus verlassen hatte, nahm er ein dickes Buch unter den Arm und lief davon.
Er holte den Vater unterwegs ein. Der alte Mann freute sich sehr, aber er fürchtete die Rache des Hexers.
„Seid ruhig, Vater“, sagte der Junge, „ich verwandle mich jetzt in ein Pferd. Ihr setzt Euch auf meinen Rücken und wir reiten in das nächste Dorf. Aber wenn ihr mich verkauft, vergeßt nicht, mir den Riemen vom Maul zu nehmen, denn wenn der auf mir bleibt, kann ich nie mehr Mensch werden.“
Der Sohn verwandelte sich also in ein Pferd, der Alte setzte sich darauf und sie ritten in das nächste Dorf, in dem eben Markttag war.
Gleich drängten sich kauflustige um sie und fragten nach dem Preis des Pferdes. „Vierhundert Gulden“, sagte der Alte. Allen schien dieser Preis zu hoch; aber da kam der Hexer. Er schaute das Pferd an und wußte sofort, was für ein Pferd es war. „Da hast du vierhundert Gulden“, sagte er und zählte dem Alten die Summe in die Hand. Der Alte freute sich so darüber, daß er vergaß, dem Pferd den Riemen vom Maul zu lösen. Der Hexer schwang sich rasch in den Sattel und ritt davon. Er war sehr wütend, deshalb ritt er zum nächsten Schmied und befahl ihm, das Pferd mit zentnerschweren Hufen zu beschlagen. Der Schmied ging die Eisen holen, und der Hexer folgte ihm auf dem Fuße, um sich zu überzeugen, daß er nicht etwa leichtere Hufeisen nehme. So blieb das Pferd allein beim Brunnen stehen.
Da kam aus dem Haus ein junges Mädchen mit einem Krug. Es ging zum Brunnen.
„Ich bitte dich, mein Mädchen, löse mir den Riemen den ich ums Maul trage“, bat das Pferd.
„Gerne“, antwortete das Mädchen, stellte den Krug auf die Erde nieder und lockerte die Riemen.
Kaum war das geschehen, streifte das Pferd am Brunnenrand die Riemen vom Kopf, verwandelte sich in eine Taube und flog davon.
Das Mädchen am Brunnen suchte vergeblich das Pferd, aber der Hexer wußte schon, was geschehen war, und sah die Taube am Himmel.
Er verwandelte sich gleich in einen Falken und flog der taube nach. Beinahe hätte er sie erwischt, da aber war die Taube vorm königlichen Schloß angekommen und sah an einem offenen Fenster ein Mädchen sitzen, und als goldener Fingerring ließ sie sich der Schönen in den Schoß fallen.
Die Prinzessin freute sich über den Ring und lief damit zu ihrem kranken Vater.
Der kranke König wunderte sich sehr, aber auch er freute sich seiner Tochter wegen.
Während sie noch über den Ring sprachen, meldete der Diener einen fremden Arzt, welcher dem König Heilung bringen wollte.

Der König ließ den Arzt eintreten – aber es war der Hexer.
„Ich kann den König heilen“, sagte der Hexer und sah dabei nur den Ring an, „ich kann ihn heilen, wenn ich den Ring dafür bekomme, den die Prinzessin an ihrem kleinen Finger trägt.“
Die Prinzessin trennte sich nicht gern von dem Ring, aber dem Vater zuliebe versprach sie dem fremden Arzt den Ring, wenn er den König gesund mache.
Der Hexer hatte keine Arzneien nötig; es dauerte nicht lange und der König war gesund. Nun verlangte der Hexer den Ring. Da, als die Prinzessin ihm den Ring in Dankbarkeit überreichte, entglitt er ihrer Hand und fiel zu Boden und da waren statt den Ringes plötzlich viele kleine Maiskörner da. Im gleichen Augenblick wurde aus dem Arzt eine Taube, welche die Körner zu fressen begann. Aber auf ein Körnchen hatte die Prinzessin ihren Fuß gesetzt, und dieses Versteck genügte dem verzauberten Jüngling, sich in einen Habicht zu verwandeln. Der Habicht stürzte sich auf die Taube und riß sie in Stücke.
So war es um den bösen Hexer geschehen, und aus dem Habicht wurde ein schöner Jüngling, der sich vor der Königstochter verneigte und ihr dankte.
Der König, der alles dies mit höchster Verwunderung mit angesehen hatte, ohne es sich erklären zu können, sprach schließlich zu dem Jüngling:
„Nun, wenn du es verstanden hast, den Hexer zu vernichten, so gebe ich dir meine Tochter zur Frau.“
So geschah es. Der Jüngling heiratete die schöne Prinzessin, seinen alten Vater nahm er zu sich ins Schloß, und sie lebten lange Jahre in Glück und Frieden.

Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944

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