BERONA

Es war einmal ein König, der hatte einen Garten,, so schön, wie es auf der Welt nicht seinesgleichen gab. In diesem Garten wuchs ein mächtiger Baum, gerade wie eine Tanne und grün wie eine Linde. Wer immer in den Garten kam, ließ seine Augen zuerst auf diesem Baum ruhen und konnte sich nicht sattsehen. Einmal sagte der König: „Ich würde viel darum geben, wenn einer mir kundtun könnte, wie der Baum sich nennt und was er für Früchte trägt.“
Gelehrte Leute aus dem ganzen Land kamen, besahen sich den Baum von allen Seiten, aber zu sagen wußten sie nichts. Plötzlich trat ein alter Mann auf den König zu und sprach: „Ihr bemüht Euch vergeblich, der Baum gibt Euch sein Geheimnis nicht preis. Als ich selber noch ein kleiner Junge war, da erzählte mir ein uralter Mann, daß dieser Baum in der Welt nicht seinesgleichen habe und daß er Früchte trage, wie sie die Menschheit noch nicht gesehen hat. Vor Mitternacht beginnt er zu knospen, eine Weile später zu blühen und dann reifen an ihm goldene Früchte. Um Mitternacht werden sie ihm abgenommen, ich weiß nicht von wem.“
Der König dankte dem alten Mann. „Wenn dem so ist“, sagte er, „dann werde ich das Geheimnis enträtseln. Der Baum gehört mir und seine Früchte auch.“ Dann wandte er sich an seine drei Söhne. „Wer von euch will als erster die Nachtwache übernehmen?“
„Ich unterziehe mich der Aufgabe“, meldete sich der Älteste.
Es kam der Abend, der Prinz lud sich seine Freunde ein, sie nahmen Speise und Trank mit in den Garten, machten ein Feuer unter dem Baum und begannen zu essen und zu trinken und zu singen und zu lachen, und es kam ihnen kein Schlaf in die Augen. Vor Mitternacht entdeckten sie Knospen an dem Baum. Nach einer Weile blühten die Knospen auf, und noch ein wenig später verwandelten sich die weißen Blüten in glänzende Kügelchen. Die wurden sichtlich größer und bald waren es schöne goldene Äpfel, die wie Sterne glänzten.
Alle drängten sich um den Baum, jeder wollte als erster einen goldenen Apfel pflücken, da – ein Blitz, ein Krach, ein Sturmwind, Regen und Finsternis brachen ein, es war als ob die Welt untergehen wollte. Der Prinz und seine Freunde wußten vor Angst nicht mehr, wo sie sich befanden. Nach einer Weile beruhigte sich das Unwetter, der Regen hörte auf und am Himmel standen wieder der Mond und die Sterne. Alle schauten auf den Baum, aber von den Äpfeln war keine Spur mehr zu sehen.
Der König erwartete voll Ungeduld seinen ältesten Sohn, aber der Prinz kam mit leeren Händen.
Als er dem König alles erzählt hatte, was sich begeben, da meldete sich der zweite Sohn. Er wolle in dieser Nacht wachen. Dem König war es recht.
Der Prinz ließ Speise und Trank in den Garten tragen und begann mit seinen Freunden unweit des Baumes ein lustiges Gelage.
Die Mitternacht nahte. Die Knospen quollen auf, begannen zu blühen, blühten ab, und die goldenen Früchte begannen zu reifen und groß zu werden. Die Jünglinge wollten gerade auf den Baum zulaufen, da wurde es plötzlich so kalt, daß ihre Gesichter im Frost brannten. Unter den Füßen hatten sie glattes Eis, sie fielen bei jedem Schritt nieder, die Hände erstarrten, die Kälte drang ihnen durch die Kleider, beinahe wären sie erfroren, und in der völligen Finsternis, die hereingebrochen war, wußten sie nicht, wohin sie sich wenden sollten. Aber das alles dauerte nicht lange. Bald wurde es wärmer, das Eis schmolz, die Dunkelheit wich, und in dem klaren Himmel glänzten die Sterne und der Mond. Die jungen Leute schauten auf den Baum, und es war kein einziger goldener Apfel mehr zu sehen.
Der König war sehr enttäuscht, als auch sein zweiter Sohn mit leeren Händen zurückkam, und er wollte das Unternehmen schon aufgeben. Aber da meldete sich der jüngste Sohn zur Nachtwache.
Vor dem Abend ging der junge Prinz in den Garten. Er ging ganz allein, nur seine Flöte hatte er mitgenommen. Nahe dem Baum blieb er stehen. Der Abend war still, nicht ein Blatt bewegte sich. Er begann zu spielen, erst langsam, dann rascher, bald waren die Weisen bittend, dann voller Sehnsucht, dann fröhlich und dann weihevoll. Plötzlich begann der Baum zu knospen, zu blühen und seine goldenen Früchte wuchsen. Der junge Prinz sah das, und je schöner der Baum wurde, desto schöner und inniger erklang des Jünglings Flötenspiel.
Nun war die Mitternacht da. Und mit dem zwölften Glockenschlag stand eine wunderschöne goldene Frau unter dem Baum und begann die Früchte zu pflücken. Der Königssohn konnte seine Augen nicht von ihr wenden. Die Flöte entglitt seinen Händen, er schaute und schaute. Als die goldene Frau alle Früchte gepflückt hatte, lächelte sie, neigte ihr Haupt und sagte mit süßer Stimme: „Du hast eine schwere Aufgabe bewältigt. Dein Flötenspiel hat dein unschuldiges Herz enthüllt, darum durftest du mich sehen. Nun höre, von jetzt an wirst du die goldenen Früchte ernten, aber nicht mehr um Mitternacht, sondern am Nachmittag.
„Wer bist du?“ fragte der Jüngling.
„Man nennt mich Berona und ich wohne in der schwarzen Stadt“, antwortete sie und verschwand.
Leid ergriff den jungen Prinzen. Er lief ins Schloß, und der König hob freudig die Hände und streichelte seinen Sohn, als er von ihm hörte, was er in dieser Nacht erlebt hatte.
Wie es die goldene Frau gesagt, so geschah es. Der Königssohn konnte an jedem Nachmittag die goldenen Äpfel ernten, aber er wurde dabei immer stiller und trauriger. Schließlich gestand er dem Vater,  daß er Berona suchen wolle. „Gut, mein Sohn“, sprach der König, „du sehnst dich nach dem Mädchen und findest nirgends Ruhe, so geh mit Gott.“
Über Berge, Felder und Flüsse, durch viele Länder kreuz und quer zog der junge Prinz, aber von Berona fand er nirgends eine Spur. Nun war er schon beinahe ans Ende der Welt gekommen. Da sah er auf einer Wiese drei Teufel miteinander streiten. Um einen Mantel, ein Paar Stiefel und eine Peitsche ging der Zank. Sie schrien, daß der Prinz beinahe taub wurde.
„Brüllt nicht so, einer soll mir sagen, warum ihr euch nicht vertragen könnt, die andern sollen schweigen“, sagte der Prinz.
„Nun, so höre“, sagte der älteste der Teufel. „Mantel, Stiefel und Peitsche haben wir vom Vater geerbt. Wer sich in den Mantel hüllt, wird unsichtbar. Wer die Stiefel anzieht, kann durch die Lüfte fliegen. Wer mit der Peitsche knallt, der landet dort, wo er sein will. Diese drei Dinge sollen wir untereinander teilen, aber jeder von uns will alle drei allein besitzen.“
„Das seh‘ ich ein“, sagte der Prinz. „Darum legt die Sachen da nieder, geht dorthin zu jenem Baum und dann beginnt ein Wettlaufen zu mir her. Wer zuerst ankommt, dem sollen alle drei Gegenstände allein gehören.“
Die Teufel waren mit diesem Vorschlag einverstanden, legten die Sachen neben den Prinzen und begaben sich zu dem angezeigten Baum. Kaum hatten sie dem Jüngling den Rücken gekehrt, da schlüpfte er in den Mantel, zog die Stiefel an, knallte mit der Peitsche und sprach dabei: „In die schwarze Stadt will ich fliegen, zur goldenen Frau.“ Im gleichen Augenblick erhob er sich in die Luft. Als er gerade über den Köpfen der drei Teufel stand, schrie er zu ihnen hinunter: „Kommt mir nach in die Schwarze Stadt, dort will ich euch eure Sachen zurückgeben.“, dann flog er weiter. In wenigen Augenblicken sah er sich in der Schwarzen Stadt und vor einem großen Haus sank er zur Erde hinunter.
Er trat ein und nach ein paar Schritten schon stand er vor der Ersehnten. Sie wollte ihren Augen nicht trauen. Denn sie hatte nicht gedacht, daß er den Weg zu ihr finden könne. Aber da er es vollbracht, war sie glücklich, hieß ihn willkommen und machte ihn zum Herrn über sich und über das ganze Land.

Es kamen aber auch die drei Teufel. „Her mit dem Mantel, den Stiefeln, der Peitsche“, brüllten sie. Der Königssohn gab ihnen, was ihnen gehörte, und riet ihnen, beisammen zu bleiben und sich ihrer Schätze gemeinsam zu bedienen. Da wurden sie ganz sanft, dankten ihm schön und zogen vergnügt miteinander ab.

Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944

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