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DER WINDKÖNIG
Irgendwo und irgendwann lebte ein König. Er hatte einen Sohn und eine Tochter. Das waren schöne Kinder. Der Sohn war wie die Sonne und das Mädchen wie die Morgenröte. Der alte König konnte stolz sein auf die beiden, und er war es auch.
Einmal fuhr der König mit seiner Tochter im Wagen spazieren. Da erhob sich plötzlich ein gewaltiger Wind und riß die Prinzessin aus dem Wagen fort. Der König erschrak, blickte nach allen Seiten, aber nirgends war eine Spur von der Tochter zu sehen. Gleich schickte er alle seine Diener aus, um nach der Prinzessin zu forschen. Sie suchten sie wie eine Nähnadel, aber die Prinzessin blieb verschwunden.
Darüber war der König sehr unglücklich. „Lieber Vater“, sagte da der Sohn, dem es auch nicht leichter war ums Herz, „gräme dich nicht. Ich werde die Schwester suchen, und Gott wird mit helfen, daß ich sie finde.“ Der König segnete seinen Sohn und rüstete ihn für eine weite Reise aus.
Der Prinz ging über Berge und Täler. Laut rief er immer wieder den Namen seiner Schwester, und jeden fragte er nach ihr, aber er fand keine Spur.
Wie er so weiterwanderte, kam er an einen See. Am Ufer tummelte sich eine Schar Enten. Er riß sein Gewehr von der Schulter und zielte auf die größte. Die aber schrie: „Halt, schieße nicht, in liebe mein Leben!“ Da hängte der Prinz das Gewehr wieder über die Schulter und die Ente sagte: „Ich danke dir. Vielleicht kann ich dir helfen. Ich weiß, wohin du willst, du bist auf dem richtigen Weg.“
Der Jüngling wunderte sich sehr und ging weiter. Kaum war er ein paar Schritte gegangen, da verstellte ihm ein großer Ameisenhaufen den Weg. Er blieb stehen und begann mit seinem Säbel in dem Ameisenhaufen zu stochern. Gleich kamen viele Ameisen gelaufen, zuletzt eine ganz große mit Flügeln. Die sprach: „Zerstöre nicht mein Haus, geh doch rechts herum.“ Der Prinz lächelte und tat, wie sie ihm geheißen. Bald kam er in ein Dickicht, in dem er sich völlig verlor.
Einen einzigen kleinen Pfad sah er, aber der war von einem alten vermorschten Baumstamm verstellt, in dem Bienen hausten. Der Prinz sog seinen Säbel und begann den Baumstamm umzuhauen, aber da kam eilig die Bienenkönigin herausgeflogen. „Zerstöre mein Haus nicht, geh doch rechts herum“, bat sie.
Es war nicht leicht, aber der Prinz versuchte es immer wieder, rechts um den Baumstamm herumzugehen, und schließlich gelang es ihm, sich durch das Dickicht durchzukämpfen. Er ging noch ein paar Schritte, da befand er sich plötzlich auf einem freien Platz, und dort stand ein Schloß. Er machte einen Schritt auf das Schloß zu, da erhob sich ein fürchterlicher Sturm und warf ihn um. Auf allen vieren kroch der Prinz weiter, damit ihn der Sturm nicht wegreiße. Er brauchte eine ganze Weile, bis er vor das Schloßtor gelangte. Er klopfte an. Nichts rührte sich, so trat er ein.
Er ging durch lange Gänge, durch viele Zimmer, nirgends traf er eine lebende Seele. Schließlich, hinter der letzten Tür, fand er den Herrn Schwager, den Räuber seiner Schwester, der zum Fenster hinauslehnte und kräftig drauflos pfiff. Als der Windkönig seiner ansichtig wurde, sagte er: „Willkommen, Schwager!“ Aber der Prinz fragte geradewegs nach seiner Schwester. „Ei“, sagte der Windkönig, „sein nur ganz still, jetzt bist du in meiner Macht.“ Und schon fühlte sich der Prinz emporgehoben, hui, ging’s zum Fenster hinaus und zum Meeresstrand hinunter.
„So“, sagte der Windkönig, als er den Prinzen wieder auf seine eigenen Füße gestellt hatte, „so, sieh den ring hier, den ich von meinem Finger ziehe. Ich werfe ihn ins Meer hinaus. Bringst du ihn mir bis morgen früh wieder, dann bist du deiner Schwester um ein gutes Stück näher gekommen. Wenn nicht, werde ich dich dorthin zurückblasen, von wo du gekommen bist.“
Mit Hui war der Windkönig wieder davongebraust.
Da stand nun der Prinz allein am Ufer des Meeres und wußte sich keinen Rat. Er ging hin und her; mit einemmal flog eine Ente vor seine Füße. „Ich will dir helfen, weil du so gut zu mir warst“, sagte sie. „Leg dich schlafen wenn du aufwachst, wird der Ring hier ein.“
In der Morgendämmerung erwachte der Prinz. Da glänzte der Ring des Windkönigs an seinem Finger. Er hatte nicht lange Zeit, sich zu freuen, schon kam der Windkönig herangebraust. „Wo ist der Ring?“ schrie er. „Hier“, sagte der Prinz. „Das hast Du gut gemacht; nun komm mit mir.“
Er trug ihn wieder durch die Lüfte zurück ins Schloß, und dort setzte er ihn auf dem höchsten Turm ab. Dann brachte er einen großen Topf mit Mohn, den streute er vom Turm hinunter ins Land. „Gelingt es dir, den Mohn bis morgen früh in den Topf zurückzuklauben, dann wirst du deiner Schwester wieder ein Stück näher sein.“
Traurig blieb der Prinz allein auf dem Turm zurück. Er blickte ratlos um sich. Da kam pötzlich eine große Ameise angeflogen. „Du warst gut zu mir, ich will dir helfen“, sagte sie. „Leg dich schlafen, bis morgen früh wird der Mohn im Topfe sein.“
Voll Vertrauen legte sich der Prinz zum Schlafe nieder. Als am Morgen der Windkönig dahergebraust kam, war der Mohn bis zum letzten Körnchen im Topfe. „Gut hast du das gemacht“, lobte der Windkönig. „Du sollst deine Schwester haben. Aber du mußt sie unter zwölf jungen Mädchen herausfinden.“
Da wäre ich kein guter Bruder, wenn ich meine Schwester nicht erkennen sollte, dachte der Prinz. Aber als er zu den zwölf Mädchen kam, da fand er, daß alle seiner Schwester glichen wie ein Ziegelstein dem andern. Und alle begrüßten ihn als ihren lieben Bruder. Da flimmerte es dem Prinzen vor den Augen. Der Windkönig hatte ihm mit seinen Zauberkünsten einen bösen Streich gespielt. Da kam eine Biene herangeflogen und die summte ihm ins Ohr: „Du warst gut zu mir, ich will dir helfen. Paß gut auf, jetzt fliege ich zu der hin die deine Schwester ist.“
Da wurde der prinz gar froh. Er sah der Biene nach, und als sie langsam um das haupt eines der Mädchen kreiste, ging er auf dieses Mädchen zu: „Diese ist meine Schwester“, sagte er.
„Richtig“, rief der aufgeblasene Windkönig. „Nimm sie und geh heim mit ihr.“
Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen. Freudig eilten sie davon, zurück zu ihrem Vater.
Groß war das Glück des Königs, als er seine beiden Kinder wieder hatte, und im ganzen Lande freute man sich mit ihm.
Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.
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