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GOLDHAAR
Es war einmal ein armer, aber schon sehr armer Schmied. Vielleicht war es auch ihm früher besser gegangen, aber er hatte sich verheiratet und im Lauf der Jahre viele, viele Kinder bekommen. Mit dem Handwerk ging es nicht vorwärts, Erspartes besaß er nicht, ebensowenig ein Stückchen Erde, das er hätte bebauen können. Was Wunder, daß er in Not geriet? Von Tag zu Tag ging es ihm schlechter; schließlich verdroß ihn alles derart, daß er nicht mehr am Leben bleiben wollte. Er nahm die letzten sieben Kreuzer, die noch im Hause waren, kaufte einen Strick und ging in den Wald, um sich zu erhängen.
Er suchte sich einen geeigneten Baum, und gerade wollte er den Strick über einen Ast werfen, da stand plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, eine fremde Frau vor ihm. Die redete auf ihn ein, er dürfe sich nicht erhängen, das sei eine schwere Sünde. Der Schmied war bestürzt, und er überlegte ob er von seinem Vorhaben abstehen sollte; aber da kam ihm wieder sein ganzes Elend in den Sinn, und er warf den Strick neuerlich über den Ast. Wieder bemühte sich die Frau, ihn von seinem verwerflichen Entschluß abzubringen. Der Schmied achtete nicht mehr auf ihre Worte und legte sich den Strick um den Hals. Da riß ihm die Frau den Strick aus der Hand und sprach:
„Ich werde dir aus deiner Not helfen, will dir Geld geben, mehr als genug, du mußt mir dafür das geben, was du im Hause hast, ohne darum zu wissen.“
„Was kann das schon sein?“ sagte der Mann, „ich versprech‘ es dir gern.“
Da verschwand die Frau, kam aber gleich wieder zum Vorschein mit einem ganzen Haufen Geld. Das gab sie dem Schmied und sagte: „Was du mir versprochen hast, das hole ich mir in sieben Jahren.“
Fort war sie, der Schmied aber lief voll Freude heim.
Als er zu Hause den Reichtum ausbreitete, war die Hütte voll Freude.
Als er aber der Frau erzählte, was der der Fremden dafür versprochen habe, da begann sie zu weinen, denn sie war guter Hoffnung und das hatte der Schmied noch nicht gewußt.
„Nun werden wir dieses Kind verlieren“, klagte die Frau, „das ist die Strafe dafür, daß du dich erhängen wolltest.“
Der Schmied erschrak sehr, doch was half es, geschehen ist geschehen.
Als für die Schmiedin die Zeit gekommen war, gebar sie ein wunderschönes Mädchen, mit goldenem Haar und einem goldenen Stern auf der Stirne. Man sah gleich, daß dieses Kind etwas ganz Besonderes war. Die Eltern hüteten es wie ihren Augapfel und erzogen es, so gut sie konnten.
Als sieben Jahre vergangen waren, hielt eines Tages eine schwarze Kutsche vor der Schmiede. Aus ihr stieg die dem Schmied schon bekannte Frau. Sie sprach kein Wort, nahm Goldhaar bei der Hand, führte sie zu ihrem Wagen, hob sie hinein und fuhr davon. Weinend bleiben die Eltern zurück.
Der schwarze Wagen fuhr weit. Schließlich hielt er vor einem schönen Schloß. In dieses Schloß brachte die Frau das Mädchen. Sie führte das Kind durch neunundneunzig Zimmer und sprach:
„Alle diese Zimmer sind fortan dein, aber du mußt sie sauber halten. Das hundertste Zimmer aber, in das darfst du niemals hineinschauen. Jetzt verlasse ich dich, in sieben Jahren werden wir uns wiedersehen, bis dahin vertreibe dir die Zeit so gut du kannst, und vergiß meine Worte nicht.“
Als sie das gesagt hatte, verschwand sie.
Sieben Jahre blieb das Mädchen Goldhaar in diesem Schloß. Es mangelte ihr an nichts, sie hatte auch genug zu tun mit den neunundneunzig Zimmern, und niemals schaute sie in das hundertste. So wuchs sie heran und wurde von Tag zu Tag schöner.
Nach sieben Jahren kam die Frau.
„Hast du in das hundertste Zimmer gesehen?“ war ihre erste Frage.
„Nein“, erwiderte Goldhaar, und die frau wußte, daß sie die Wahrheit sprach.
Sie blieb einige Tage bei Goldhaar, dann schickte sie sich wieder zur Abreise an. Vorher verbot sie – wie das erstemal – dem Mädchen, in das hundertste Zimmer zu schauen.
Wieder ging Goldhaar durch die neunundneunzig Zimmer, sie hielt sie in Ordnung, alles war wie ein Spiegel blank. An das hundertste Zimmer dachte sie nicht.
Aber eines Tages vernahm sie eine wunderbare Musik aus diesem Zimmer. Obwohl diese Musik sie wie mit Fäden zu sich zog, widerstand sie an diesem Tage. Aber am nächsten Tag war die Musik noch viel schöner als am vorhergehenden, da konnte sie sich nicht länger zurückhalten und warf einen Blick in das hundertste Zimmer.
Um einen Tisch saßen elf Männer, ohne sich zu rühren. Sie glichen Totengerippen. Ein zwölfter stand neben der Türe. Der beschwor Goldhaar, der Frau nicht zu verraten, was sie hier gesehen habe, sonst wäre es um alle zwölf Männer geschehen.
Goldhaar versprach zu schweigen, schloß rasch die Tür und ging wieder an ihre Arbeit.
Dann kam die Frau. Oh, sie wußte genau, was Goldhaar getan hatte, und sie sagte:
„Mädchen, du hast in das hundertste Zimmer geblickt; sage, was hast du gesehen?“
„Ich habe versprochen zu schweigen“, erwiderte Goldhaar.
Die Frau fragte noch einmal, aber Goldhaar schwieg.
„Wenn du nicht sprichst, so mache ich dich stumm und jage dich aus dem Schloß“, sagte die Frau. Aber auch diese Drohung konnte Goldhaar nicht dazu bringen, ihr Versprechen zu brechen.
Da verzauberte die Frau Goldhaars Zunge, daß sie mit keinem Menschen mehr reden konnte, außer mit der Frau selber, und jagte das Mädchen aus dem Schloß.
Goldhaar ging und ging. Als es Abend war, kam sie zu einer Wiese, um die ringsum Wälder standen. Dort blieb sie, nährte sich von Beeren und süßen Wurzeln und wurde immer schöner. Hin und wieder tauchte die Frau auf und verlangte von ihr zu hören, was sie im hundertsten Zimmer gesehen habe, aber Goldhaar sagte nur immer wieder: „Ich habe versprochen zu schweigen.“
Eines Tages verirrte sich ein junger König auf diese Wiese. Er fand Goldhaar schlafend. Je länger er das Mädchen anschaute, desto besser gefiel es ihm. Schließlich weckte er sie und fragte sie nach ihrem Namen. Aber sie konnte ihm nicht antworten. Er glaubte, sie schwiege, weil sie Furcht vor ihm hatte. Da fragte er sie, ob sie mit ihm auf sein Schloß kommen und sein Weib werden wolle. Goldhaar nickte zustimmend mit dem Kopf. Da hob sie der junge König auf sein Pferd und ritt mit ihr in sein schönes Schloß, gab ihr prächtige Kleider und nahm sie zur Frau. Er liebte sie, obwohl sie stumm war.
Sie lebten glücklich und zufrieden. Nach einem Jahr gebar sie einen wunderschönen Knaben. Er hatte goldene Haare und einen goldenen Stern auf der Stirn. Wer freute sich mehr als der König! Er lud viele Gäste ins Schloß, damit sie sich mit ihm freuten. Aber das Glück wandelte sich in Trauer.
In der Nacht stand vor Goldhaar die Frau.
„Sage mir, was du im hundertsten Zimmer gesehen hast, sonst töte ich dein Kind.“
Goldhaar erschrak furchtbar und sagte leise: „Ich habe doch versprochen zu schweigen.“
Da nahm die Frau den Knaben und verschwand mit ihm. Nur eine Blutlache blieb zurück.
Als man am Morgen das Kind vermißte, erfaßte alle Entsetzen. Man suchte im ganzen Schloß, fand aber keine Spur.
Viele behaupteten, die Königin habe das Kind getötet, aber der König wollte das nicht glauben. Er lebte weiter mit seiner schönen Frau, denn er liebte sie sehr.
Gott segnete sie abermals. Als ihre Zeit sich erfüllte, gebar sie ein liebliches Mädchen mit goldenem Haar und einem goldenen Stern auf der Stirne, schon wie die Königin selbst. Der König war überglücklich, und damit nicht wieder Unheil über das Kind komme, stellte er im ganzen Schloß Wachen auf, bis in das Gemach der Königin, daß nicht einmal eine Fliege unbemerkt eindringen konnte.
Aber was half das? Die Frau war mächtiger. Sie ließ alle in einen tiefen Schlaf fallen, trat an das Bett der Königin und fragte: „Was hast du im hundertsten Zimmer gesehen? Sage es, oder ich töte auch dein zweites Kind.“
„Ich habe versprochen zu schweigen“, sagte die Königin und hob flehend ihre Hände. Die Frau rührte das nicht. Sie nahm das kleine Mädchen, verschwand mit ihm und nur eine Blutlache blieb zurück.
Am Morgen wußte keiner, wie das geschehen konnte. Der König war außer sich vor Leid und Zorn, und jetzt glaubte auch er, was die Leute laut und leise sagten: „Die Königin ist eine Hexe, sie hat ihre Kinder getötet.“
Die arme Goldhaar sollte nun vor der Stadt verbrannt werden. Schon führte man sie hinaus, schon band man sie an einen Pfahl, schon wollte man den Scheiterhaufen anzünden, da kam von irgendwoher ein schwarzer Wagen angefahren. Ganz dicht an den Scheiterhaufen rollte er heran. Und die wohlbekannte Frau entstieg der Kutsche.
„Nun, Mädchen, willst du immer noch dein Versprechen halten? Oder willst du mit jetzt sagen, was du im hundertsten Zimmer gesehen hast? Es geht um dein Leben!“
„Ich halte mein Versprechen“, sagte Goldhaar.
Da veränderte sich die schwarze Frau plötzlich. Sie wurde ganz strahlend und glücklich und rief:
„Ich danke dir. Weil du dein Wort nicht gebrochen, hast du mich und die zwölf Männer von einem bösen Fluch befreit. Hättest du verraten, was du gesehen hast im hundertsten Zimmer, dann wären wir alle, auch du, für alle Ewigkeit verflucht gewesen.“
Nach diesen Worten ging sie zum Wagen und holte daraus zwei wunderschöne Kinder, einen Knaben und ein Mädchen – Goldhaars eigene Kinder. Die legte sie der seligen Mutter in die Arme und verschwand.
Im gleichen Augenblick vermochte Goldhaar wieder ihre Zunge zu gebrauchen, sie konnte wieder sprechen und erzählte dem König und dem Volk, das herbeigelaufen kam, alles, was sie erlebt hatte.
Der König fiel ihr um den Hals und bat sie um Verzeihung. Er brachte sie und die Kinder ins Schloß, und bald darauf schickten sie auch um den Schmied, der mit seiner Frau und allen Kindern kam, und sie lebten glücklich und zufrieden, wie lange – das weiß nur Gott selbst.
Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.
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