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RADOWID
In alten Zeiten lebte einmal ein reicher Gutsherr. Leider war er ein großer Verschwender. Er liebte das Würfelspiel, die Geselligkeit und die Jagd. Arbeiten wollte er lieber nicht. So kam es, daß er bald sein ganzes Geld verjubelt hatte. Nun siedelte er mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in sein altes Landschloß über, und dort lebten sie, wie Bauern leben.
Einmal ging der Gutsherr auf die Jagd und es gelang ihm, einen Hasen zu erlegen. Noch hatte er sich nicht gebückt nahc dem toten Tier, da stand ein großer Bär vor ihm, hob sich auf die Hintertatzen und mit den Vordertatzen griff er nach dem Gutsbesitzer.
„Wie kannst du es wagen, einen meiner Untertanen zu töten?“ brüllte der Bär. „Dafür werde ich dich auffressen, es sei denn, du gibst mir deine älteste Tochter zu Frau. Wähle!“
Was sollte der Gutsherr tun? Ob er wollte oder nicht, er mußte dem Bären seine Tochter versprechen, sonst wäre er zerrissen worden!
„In sieben Wochen hole ich sie“, brummte der Bär und lief in den Wald hinein, daß die trockenen Zweige unter seinen Tatzen krachten.
Bekümmert ging der Gutsherr heim, und als die älteste Tochter ihm den Hasen aus der Hand nahm, konnte er sich des Weinens nicht mehr enthalten. Gleich eilten die andern beiden Töchter und auch die Frau herbei und alle bestürmten den Mann mit Fragen. Da erzählte er ihnen, was ihm widerfahren war.
Jetzt begannen auch die Mutter und die beiden jüngeren Töchter zu weinen, die älteste aber bemühte sich, ruhig zu bleiben und die Eltern zu trösten.
„Sei nicht traurig, lieber Vater“, sagte sie, „für dein Leben gebe ich gern das meine hin.“
Mit Bangen erwarteten sie alle das Ende der sieben Wochen und der Vater sann immer darüber nach, wie er die Tochter vor dem Unheil bewahren könnte. Schließlich bat er alle Nachbarn, sich an dem bestimmten Tag in seinem Hause einzufinden, mit starken Waffen versehen, um den Bären zu töten.
Die Leute waren pünktlich zur Stelle. Sie warteten, die Sonne wollte schon untergehen, aber der Bär kam nicht.
Da begann in der Stille etwas zu tönen, eine schöne Musik erklang, wie aus weiter Ferne, so, als ob sie aus dem Innern der Erde käme. Von einem Augenblick zum andern wurde sie stärker und schöner. Plötzlich erdröhnte die Erde unter dem Stampfen von Pferdehufen, und aus dem Wald sah man eine lange Reihe vergoldeter Wagen hervorkommen. Sie fuhren geradewegs auf das Schloß zu und im Hof blieben sie stehen. Sechs feurige Rosse waren vor den schönsten der Wagen gespannt, und aus dem sprang ein junger Fürst, schön wie eine Rose und glänzend von Gold und Edelsteinen, wie eine Wiese von Blumen vor der Mahd. Nach ihm sprangen die andern aus den vielen Wagen, und sein ganzes Gefolge schritt hinter dem Prächtigen her. Die Augen aller waren auf den Fürsten gerichtet. So etwas Schönes hatte niemand bislang gesehen. Er ging auf den alten Gutsherrn zu und bat ihn, ihm seine älteste Tochter zur Frau zu geben.
„Von Herzen gern würde ich dies tun“, erwiderte der Vater, „aber ich habe sie einem Bären versprochen, den wir eben erwarten.“
„Der Bär soll eine Bärin freien; die schöne Jungfrau gib einem schönen jungen Mann, der zu ihr paßt“, sagte der junge Fürst.
Der alte Gutsherr ließ sich gern überreden und der Tochter gefiel dieser Freier gar sehr.
Also siehe! Aus der Bärenhochzeit war eine Fürstenhochzeit geworden. Der Fürst ließ sofort aus seinem Wagen eine Truhe voll Gold abladen, als Geschenk für den Schwiegervater, dann wurde die Hochzeit gefeiert. Musik spielte, die Gäste sangen und waren übermütig. Es war wirklich ein fröhliches Fest, aber eine kurzes, denn vor Ablauf einer Stunde ließ der Fürst anspannen, empfahl sich allen, und die Jungfrau nahm er mit sich in den schönsten Wagen und schon fuhren sie gegen den Wald davon, ihnen nach die ganze Reihe der goldenen wagen, daß die Funken unter den Pferdehufen stoben.
Der alte Gutsherr wartete noch lange mit Angst auf den Bären, aber der kam nicht.
Nun hatte der Gutsherr wieder Geld genug, und gleich ging er sein altes Leben wieder von vorne an. Er gab Gastereien, spielte Würfel, vergnügte sich den ganzen Tag, und das Geld wurde weniger und weniger. Vergeblich warnte ihn die Gattin, der Gutsherr hörte nicht auf sie, und eines Tages war auch der letzte Taler vertan. Da nahm er wieder sein Gewehr in die Hand und nach alter Gewohnheit ging er in die Berge. Wild gab es keines, nur einen Falken sah er hoch in den Lüften kreisen. Er nahm ihn aufs Korn, schoß, und der Vogel fiel tot zur Erde. Noch hatte der Gutsherr sich nicht nach dem Vogel gebückt, da erhob sich im Wald ein Rauschen wie von einem Ungewitter, und im Wirbel eines starken Windes stürzte sich ein ungeheurer Adler auf den Gutsherrn herab.
„Wie konntest du es wagen, einen meiner Untertanen zu töten? Dafür werde ich dich auffressen, oder du gibst mir deine mittlere Tochter zur Frau. Wähle!“
Es war schwer, sich anders zu entscheiden, denn der Schnabel des Adlers hackte schon nach ihm, und so versprach der Gutsherr dem Raubtier seine Tochter.
„In sieben Wochen hole ich sie“, sagte der Adler, und wie ein Sturmwind zog er im Fluge ab.
Traurig kehrte der Gutsherr nach Hause zurück. Er machte sich Vorwürfe, daß er nun auch die zweite Tochter verkauft hatte. Die Familie merkte sofort, daß dem Vater etwas Unangenehmes zugestoßen war, und als sie alles erfuhren, da weinte die Mutter und es weinte die jüngste Tochter, aber die mittlere bemühte sich, die Eltern zu trösten.
„Ich werde gerne mit dem Vogel ziehen“, sagte sie, „wenn das Schicksal es so will.“
In sieben Wochen also sollte Hochzeit sein. Der Gutsherr bestellte für diesen Tag alle Schützen aus der Umgebung ins Schloß, mit geladenen Gewehren. Es mußte gelingen, den Adler zu erlegen und die Tochter zu retten.
Schon brach der gefürchtete Tag an, schon warteten die Gäste, die jungen Burschen hielten ihre Gewehre bereit zum Empfang des Adlers, und die Braut – obwohl sie ruhig schien – war sehr bleich. Aber der Adler kam nicht. Als die Sonne den höchsten Stand am Himmel überschritten hatte, da erklang von weither eine liebliche Musik, und je näher sie kam, desto schöner wurde sie. Die Gäste lauschten und warteten. Plötzlich erdröhnte der Boden unter Pferdehufen, und vom Walde sah man eine Reihe vergoldeter Kutschen herannahmen. Bevor man fünf Finger an der Hand gezählt hatte, waren sie im Hof.
Der erste Wagen war der schönste. In ihm saß ein junger Fürst, der von Gold und Edelsteinen glänzte wie der Himmel mit seinen Sternen. Als der Wagen hielt, sprang er als erster heraus und nach ihm seine Begleiter. Obschon auch diese prächtige Kleider trugen, bewunderten alle nur den Fürsten. Der trat auf den Gutsherrn zu, verneigte sich und bat ihn um die Hand seiner zweiten Tochter.
„Nichts wäre mir lieber“, sagte der Gutsherr, „aber ich habe diese Tochter einem Adler versprochen und den erwarten wir jetzt.“
„Der Adler soll für sich eine Adlerin freien, das Mädchen aber gebt einem jungen Mann, der zu ihr paßt“, entgegnete der Fürst mit einem Lächeln.
Was sollte der Gutsherr sagen? Er willigte ein, wenn die Tochter es so wollte; und der war niemand lieber als der junge schöne Fürst.
Da ließ der Fürst zwei Truhen voll Gold abladen, und die schenkte er seinem Schwiegervater. Dann wurde die Hochzeit gefeiert, und es war eine fröhliche Hochzeit. Anstatt eines Kampfes mit einem wilden Tier gab es Unterhaltung und Tanz. Aber schon vor Ablauf einer Stunde ließ der junge Fürst anspannen, verabschiedete sich von allen, hob die junge Frau zu sich in den Wagen, und fort ging es zum Hof hinaus.
Lange sahen die Gäste den Davonfahrenden nach, und die Mutter weinte. Aber weshalb auch, die Tochter ging ja nicht mit einem Adler, sondern mit einem schönen Fürsten! Und wenn der Adler käme, dem wollten sie schon heimleuchten. Aber der Adler kam nicht.
Wieder war der Gutsherr reich und die alten Leidenschaften erwachten. Aber auch ein tiefer Brunnen erschöpft sich einmal, und der Reichtum des Gutsherrn nahm wieder rasch ab.
Bald hatte er nur mehr so viel, daß er bloß ein ganz bescheidenes Leben mit Frau und Tochter im alten Schloß führen konnte. Er ging aber nicht mehr auf die Jagd; nur fischen fing er. Das war ein unschuldiges Vergnügen.
Eines Tages, als er mit seiner Angelrute unterwegs war, dachte er über sein Leben nach und nahm sich vor, falls er noch einmal zu Geld käme, es gewiß nicht mehr zu vergeuden. Er ging durch einen dichten Wald, und als er zwischen den Bäumen hervortrat, sah er sich in einem Tal, das himmelhohe Berge einschlossen. In der Mitte lag ein grüner See, den er noch nie gesehen hatte.
Er ging zu dem See und warf die Angel aus. Sehr bald hatte er einen Fisch gefangen. Darüber freute sich der Gutsherr; aber die Freude war nicht von Dauer.
Plötzlich wurde der See von Grund aus aufgewirbelt und mit großem Lärm schlugen die Wellen hoch. Ein ungeheurer Fisch peitschte das Wasser mit seinem Schweif gegen das Ufer hin, und mit den Wellen kam der Fisch heran. In seinem offenen Rachen hätte ein Wagen verschwinden können.
„Wie konntest du es wagen, einen meiner Untertanen zu töten? Dafür werde ich dich auffressen, oder aber du gibst mir deine jüngste Tochter zur Frau. Wähle!“
Schwer war diese Wahl für den armen Gutsherrn, da er den aufgerissenen Rachen des Fisches vor sich sah. In seiner Angst wußte er keinen andern Ausweg und versprach dem Fisch seine jüngste Tochter.
„In sieben Wochen hole ich sie“, sagte der Fisch. Mit starkem Schmatzen schloß er das Maul und warf sich ins Wasser, daß die Wellen hoch gegen das Ufer schlugen. Dann tauchte er schnell unter, daß der Sand auf dem Grund aufgewühlt und der See trübe wurde.
So wie das Seewasser, so trübte der Fisch auch die Seele des Gutsherrn. Voll Leid kehrte er heim. Seine Jüngste war seine größte Freude, und nun war auch diese Tochter verloren. Er schleppte sich heim wie eine düstere nächtliche Wolke. Mutter und Tochter überfielen ihn mit Fragen, und wie entsetzt war die Mutter, als der Mann alles erzählt hatte. Aber die Tochter bemühte sich, ruhig zu bleiben.
„Der Fisch muß ja nicht kommen“, tröstete sie die Eltern, „auch meine Schwestern wurden ja nicht von den wilden Tieren geholt, sondern von schönen Fürsten, vielleicht freit auch um mich ein Fürst.“
Aber die Eltern wurden nicht froher. Hatten sie ja niemals mehr etwas von den beiden älteren Töchtern gehört, die mit den schönen Fürsten fortgegangen waren.
Als der Schicksalstag sich lichtete, kamen die Nachbarn von allen Seiten, junge und alte, zum Schutz der schönen Jungfrau herbei. Es wurde Mittag, es wurde Nachmittag, aber der Fisch kam nicht. Da ertönte plötzlich aus der Ferne eine schöne Musik. Je näher sie kam, desto lieblicher wurde sie. Nach kurzer Weile erdröhnte der Boden unter dem Gestampfe von Pferdehufen, und vom Wald her sah man eine lange Reihe vergoldeter Wagen aufs Schloß zufahren. Man hätte nicht die Finger einer Hand abzählen können, da waren sie schon im Hof.
Der erste Wagen war der prächtigste. In dem saß ein schöner Fürst, auf der Welt hatte man seinesgleichen nicht gesehen. Er sprang aus dem Wagen, ging auf den Gutsherrn zu und bat ihn um seine jüngste Tochter.
„Wahrlich, ich würde sie dir gern zum Weibe geben“, sagte der Gutsherr, „aber ich habe sie einem scheußlichen Fisch versprochen. Ihn erwarten wir jetzt.“
„Der Fisch soll eine Fischfrau freien, mir aber gebt eure Tochter“, sagte der Fürst, freundlich lächelnd.
Wie gern gab der Gutsherr nach und wie froh war die Tochter über diesen Bräutigam!
Da ließ der Fürst drei Truhen voll Gold abladen, die schenkte er seinem Schwiegervater. Dann wurde die Hochzeit gefeiert und diese war von allen dreien die fröhlichste. Aber vor Ablauf einer Stunde ließ der junge Fürst anspannen, verabschiedete sich, hob die Braut in den Wagen, und schon fuhren sie zum Hof hinaus, nur die Staubwolken bleiben zurück.
Der Fisch aber ließ sich nicht blicken.
Nun war der Gutsherr wieder sehr reich, aber diesmal blieb er sparsam und lebte bescheiden mit seinem Weibe im alten Schloß, und ihre Gedanken waren bei den drei Töchtern, von denen sie nicht wußten, wohin man sie gebracht hatte. Die Mutter klagte oft, daß sie vereinsamt sei wie eine Linde, der man die Äste abgehauen habe.
Da hatte Gott Erbarmen mit ihr und beschenkte sie auf ihre alten Tage mit einem Söhnchen.
Die Eltern liebten dieses Kind über alles und gaben ihm den Namen Radowid, das heißt Gerngesehen.
Der Knabe wuchs heran und wurde schön, und der Vater lehrte ihn alles, was er selber wußte. Den Leuten im Schloß aber hatte er streng verboten, vor dem Sohn von seinen drei Schwestern zu reden.
Und dennoch! Der Junge sah, daß alle seine Kameraden Geschwister hatten, und fragte die Mutter immer wieder, warum er denn so allein sei.
„Es ist eben so“, sagte die Mutter ausweichend; aber Radowid sah sie einmal heimlich weinen, und da wurde er neugierig.
Er hatte eine alte Amme, die konnte ihm keinen Wunsch versagen, und nun bedrängte er die mit seinen Fragen. Er umschmeichelte sie so lange, bis sie ihm alles erzählte.
Hätte die gute Alte geahnt, was sie damit anrichten sollte, sie hätte sich lieber einen Knoten in die Zunge gemacht, als den Mund aufzutun. Kaum hatte Radowid die Wahrheit erfahren, so nahm er sich vor, die Schwestern zu suchen.
Es ist nicht zu schildern, wie die Eltern erschraken, als er ihnen diese Absicht mitteilte. Der Vater bat, die Mutter weinte, alles war vergeblich.
„Ich muß meine Schwestern finden“, sagte er, „und wenn sie auf einer anderen Welt lebten. Gebt mir nur, lieber Vater, ein gutes Pferd und gute Waffen.“
Die Eltern sahen ein, daß sie ihn nicht zurückhalten konnten, und so gaben sie ihm Geld, Waffen, ein gutes Pferd und Diener, und als er alles beisammen hatte, nahm er Abschied von den Eltern und von der Amme und trat die Reise in die Welt an.
Sie ritten geradeaus in den Wald, aus dem die drei Fürsten gekommen und wohin sie mit den Schwestern fortgefahren waren. Der Weg führte über Berge und Täler. Schließlich kamen sie in einen Wald, der aus lauter tausendjährigen Bäumen bestand. Der Waldboden war mit Gestrüpp zugewachsen, und sie mußten sich jeden Schritt erkämpfen. Plötzlich blieben die Pferde stehen, als wären sie am Boden festgeschmiedet. Nicht einen Schritt wollten sie mehr machen. Sie waren an eine Grenze gekommen, welche niemand überschreiten konnte als nur der junge Radowid.
Sobald ihm dies offenbar geworden war, übergab er sein Pferd den Dienern und sagte:
„Euch ist es nicht beschieden, dieses Gebiet zu betreten. Freunde, kehrt nach Hause zurück zu meinen Eltern, grüßt sie von mir und sagt ihnen, daß ich meine Schwestern gewiß finden werde.“
Die Diener gehorchten, Radowid aber zog allein weiter. Schon war er über zwei Berge und zwei Täler gekommen, aber als er den dritten Berg erklimmen wollte, stieß er auf einen ungeheuren überhängenden Felsblock. In diesem Felsen war eine schmale Spalte und bläuliche Rauchwolken quollen daraus hervor.
Da wohnt wohl eine Waldhexe, dachte Radowid, die muß ich fragen, vielleicht kennt sie meine Schwestern.
Ohne lange zu überlegen, kletterte er bis zu der Rauchsäule hinauf, und sah, daß die Spalte zwar eng war, daß es aber doch möglich war, durchzukommen.
Er kroch also in das finstere Rauchloch, und je weiter er vorwärtskam, desto breiter wurde der Zugang, bis er schließlich aufrecht gehen konnte. Nur war es ganz finster.
Da sah er in einiger Entfernung ein Feuerchen aufglänzen, und je näher er kam, desto heller wurde es. Endlich gelangte er in eine große Grotte, in der das Feuer brannte, das er gesehen hatte. Neben dem Feuer saß eine schöne Frau, die mit zwei kleinen Bären spielte. Als sie des fremden Mannes gewahr wurde, sprang sie auf und rief erstaunt aus:
„Wie kommst du hierher, wo kein Vogel hinfindet? Fliehe, so schnell du kannst, denn wenn mein Mann kommt, zerreißt er dich.“
„Ich bin ausgezogen, um meine Schwestern zu suchen; weißt du etwas von ihnen?“ fragte Radowid und erzählte der Frau das Schicksal seiner Schwestern. Da erkannte die Frau, daß ihr Bruder vor ihr stand, denn sie war die älteste Tochter des Gutsherrn. Sie hieß ihn mit großer Freude willkommen, und er mußte ihr viel von daheim erzählen. Aber noch hatte der Bruder nicht fertig berichtet, da erklang vom Eingang des Felsens das Gebrumm eines Bären.
Auf Geheiß der Schwester sprang Radowid rasch unter einen Trog, der in einer Ecke stand; da trat schon der Bär ein.
„Frau, ich rieche Menschenfleisch“, rief der Bär und schnupperte in allen Winkeln.
„Ach, lieber Mann, du irrst, hier kommt kein Mensch her“, sagte sie, aber der Bär achtete nicht auf sie, sondern lief auf den trog zu. Schon hatte er ihn umgestoßen, da schlug die Uhr zwölf. Die Grotte erzitterte und verwandelte sich in ein prächtiges Schloß und der Bär in einen schönen Fürsten und die jungen Bären in zwei liebliche Knaben.
Mit der Bärengestalt war von dem Fürsten auch die Wildheit des Raubtieres abgefallen, und anstatt ihn zu zerreißen, umarmte und küßte er den Schwager.
„Du hast gesehen“, sprach der Fürst, „daß ich als Bär verzaubert leben muß, nur für eine Stunde am Tag ist es mir gegeben, Mensch zu sein. Das gleiche Schicksal hat meine beiden Brüder ereilt. Der eine wurde Adler, der andere Fisch. Zwölf Stunden wirkt der Fluch, so lange sind wir Bestien und müssen als solche zum Schrecken der Menschen umherstreifen. Unser Volk, unser Land, alles muß unser Los teilen. So ist es an jedem Tag Gottes. Daß wir wegen unserer Schwester verzaubert wurden, weiß ich, aber wie wir erlöst werden können, weiß ich nicht. Wenn du zu meinen Brüdern kommst, so frage die, vielleicht wissen sie mehr als ich. Und nun nimm hier diese Bärenhaare. Bist du in Gefahr, so reibe sie und sogleich werden dir sechs Bären zu Hilfe eilen.“
Erfreut nahm Radowid die Bärenhaare, verwahrte sie und bat den Schwager, ihm den Weg zu seinen Brüdern zu weisen.
„Draußen wartet schon mein Wagen auf dich“, sagte der Fürst, „die Pferde wissen den Weg, beeile dich, die Stunde meiner Verzauberung naht.“
Radowid verabschiedete sich, setzte sich in den Wagen, und die sechs Pferde flogen wie der Wind mit ihm über Berge und Täler. Schon waren sie an die Grenze des Landes gekommen, als die glückhafte Stunde vorüber war. Im gleichen Augenblick fühlte sich Radowid auf die Erde gesetzt, anstatt der Pferde liefen sechs Mäuse zurück in den Wald und aus der Kutsche war eine Nußschale geworden.
Radowid stand nun allein im wilden Wald. Zu seinen Füßen floß ein Bächlein dahin, so schmal wie ein Finger. Jenseits des Wässerchens sah er eine Wegspur, die sich im Walde verlor. Dieser Spur folgte er. Er ging lange durch Wälder, über Berge und Täler und auf einmal stand er vor einer Eiche, die höher war als alles, was er bisher gesehen hatte. Weit und breit bogen sich die Äste auseinander und auf ihnen, hoch oben, stand ein Haus. Als Radowid dies erblickte, dachte er, daß dies die Wohnung der zweiten Schwester sein könnte. Er wartete lange, ob sich jemand zeigte, aber nichts rührte sich in dem Haus. So begann er zu rufen und an den Stamm zu pochen. Da öffnete sich eine Tür, eine schöne Frau trat heraus und fragte, wer die Ruhe störe.
„Ich bin es“, rief Radowid, „ich, dein Bruder. Hilf mir zu dir hinauf!“
„Bruder? Ich habe niemals einen Bruder gekannt“, antwortete die Frau. „Aber wer immer du seist, lauf davon, denn wenn mein Mann kommt, wird er dich zerreißen.“
„Ich muß dich aber sprechen, liebe Schwester“, rief Radowid, „bitte hilf mir hinauf.“
Weil er sich nicht abweisen ließ, warf sie ihm ein Seil zu und daran kletterte er rasch in die Höhe.
Nun stand er vor ihr. Sie hielt in ihrem Arm einen jungen Adler. Radowid fragte nicht viel, er begann gleich zu erzählen, und die Frau erkannte nun, daß sie wirklich ihren Bruder vor sich sah. Noch hatte sich ihre Freude nicht gelegt, da hörte man hoch in der Luft ein gewaltiges Brausen. Der Adler nahte.
„Rasch, Bruder, verstecke dich hier im Moose“, drängte die Frau.
Kaum war dies geschehen, stieß der Adler nieder, und schon schrie er: „Hier ist ein Mensch!“
„Ach, Teurer, du irrst, wie sollte ein Mensch hierherkommen“, schmeichelte die Frau.
„Wenn du ihn nicht herausgeben willst, so werde ich ihn mir selber holen“, fauchte der Adler zornig und begann die Mooshaufen auseinanderzuzerren.
Schon war er bei dem Haufen angelangt, unter dem Radowid kauerte. Da schlug die Uhr zwölf. Im gleichen Augenblick fing es wie ein Beben durch die Erde, die Hütte auf dem Baum verwandelte sich in ein herrliches Schloß, der Adler in einen schönen Fürsten, das Adlerjunge in einen lieblichen Knaben, und alles ringsum war licht und freundlich.
Der Fürst freute sich mit seinem Schwager und ließ sich von Radowid noch einmal alles erzählen, was er der Schwester schon berichtet hatte. Aber auch er wußte keinen Rat.
„Geh zu meinem jüngsten Bruder“, sagte er, „vielleicht weiß der mehr als ich.“
„Das will ich tun“, sagte Radowid, „doch wie komme ich zu ihm?“
„Bis zur Grenze meines Landes lasse ich dich geleiten, dann mußt du den Weg gehen, den du vor dir siehst. Er führt dich an einen See. Wo aus dem Wasser Rauch aufsteigen wird, dort werfe dich hinein. Hier hast du einige Adlerfedern. Wenn du in Gefahr bist, so reibe sie, und es werden dir sechs Adler zu Hilfe kommen. Aber nun beeile dich, meine Zeit ist bald um und ich möchte nicht, daß dich meine Fänge packen.“
Radowid dankte, setzte sich in den Wagen und die Pferde trugen ihn durch die Luft über Berge und Täler. Als sie an die Grenze des Landes gelangten, war eben die glückhafte Stunde vergangen und Radowid sah sich wie das erstemal auf die Erde gesetzt. Die Pferde verwandelten sich in Sperlinge und der Wagen in die Schale eines Hühnereies.
Radowid war wieder allein. Aber er sah vor sich einen schmalen Pfad, und dem folgte er. Er ging lange, endlich kam er ein ein Tal und zu einem grünen See. Als er am Ufer stehenblieb, sah er Rauch aus dem Wasser aufsteigen. Er lief hin, und ohne zu zögern, warf er sich ins Wasser, eben dort, wo der Rauch eine kleine blaue Wolke über dem Wasser bildete. Er fiel durch einen langen Rauchfang hinunter auf den Herd, auf dem die Schwester gerade das Holz zum Anfeuern schichtete. Erschrocken sprang die Frau vom Ofen weg. Radowid aber lief ihr nach.
„Fürchte dich nicht“, bat er, „ich bin dein Bruder!“
Aber sie glaubte ihm nicht, denn sie hatte ja keinen Bruder gehabt, als sie aus dem Elternhaus fortgezogen war. Da erzählte ihr Radowid alles, was er den anderen Schwestern erzählt hatte, und alsbald fiel sie ihm um den Hals und ihre Freude war groß. Noch größer wurde sie, als der Schwager ins Zimmer trat. Er hatte seine glückhafte Stunde und konnte Radowid in seiner Menschengestalt begrüßen und umarmen.
„Schweres hast du dir vorgenommen“, sagte er, als er hörte, daß Radowid sie alle erretten wollte, „aber versuche es, vielleicht wird es dir gelingen. Wir hatten eine Schwester. Ein Heer begehrte sie zum Weibe. Sie wollte ihn nicht, und auch wir wollten nicht, daß sie ihn heiratete. Da geriet der Böse in furchtbare Wut. Er entführte unsere Schwester, uns drei Brüder aber verwünschte er in die Bestien, die du ja kennst. Meine Schwester aber brachte der Hexer in eine Grotte, die ein goldener Schlüssel öffnet, der unweit vom Eingang auf einem hohen Baum hängt. Es ist nicht leicht, den Schlüssel zu gewinnen. Der Eingang in die Grotte führt durch sieben Zimmer. Im letzten schläft der Böse. Neben ihm steht ein Sarg. Darin liegt unsere Schwester. Über dem Lager des Bösen hängt ein goldenes Horn an der Wand. Wenn du auf dem bläst sind wir alle befreit.“
„Wahrlich, das will ich tun“, sagte Radowid.
Auf dem Wege, den der shager ihm gewiesen, wanderte Radowid dahin. Er ging lange über Berge und Täler bis zu dem hohen Baum, in dessen Geäst er den goldenen Schlüssel hängen sah. Wie freute sich Radowid! Er glaubte sich schon am Ziele. Er ruhte ein wenig, dann begann er den Baum zu erklimmen. Es ging, es ging! Schon war er in der Nähe des Schlüssels gelangt, als sechs wilde Stiere angerast kamen und mit ihren gehörnten Stirnen gegen den Baum anrannten, daß er wie eine Rute hin und her schwankte. Es hätte nicht viel gefehlt, und Radowid wäre wie ein Klotz heruntergefallen. Im letzten Augenblick erst erinnerte er sich der Bärenhaare. Gleich holte er sie hervor, rieb sie, und schon waren sechs ungeheure Bären da, die die Stiere zerrissen.
Aus dieser Gefahr befreit, kletterte Radowid weiter. Nun war er auf Reichweite beim Schlüssel. Schon wollte er ihn packen, da kam ein Schwarm wilder Gänse, die begannen gleich mit den Schnäbeln nach Radowid zu hacken und ihn mit den Flügeln zu peitschen. Diesmal dachte er sofort an die Adlerfedern. Er nahm sie in die Hand, rieb sie, und im gleichen Augenblick stürzten sich sechs Adler auf die wilden Gänse und vertrieben sie.
Jetzt stand Radowid kein Hindernis mehr im Wege. Er nahm den Schlüssel und kletterte vom Baum herunter.
Ein gutes Stück der Arbeit war also vollbracht. Aber größere Gefahr wartete noch seiner. Er ging zu dem Felsen, der unweit aus der Erde ragte, betrachtete ihn von allen Seiten und konnte nirgends ein Loch entdecken, in das der Schlüssel gepaßt hätte. Schon bangte er, daß ihm der schwer errungene Schlüssel zu nichts nütze sein werde, da fiel ihm ein, was der Fisch gesagt hatte. Er berührte mit dem Schlüssel das Felsgestein, und da tat sich dieses weit auseinander. Furchtlos trat Radowid ein.
Er kam in das erste Zimmer, das war ganz aus Eis. Die Kälte, die aus den Wänden drang, ließ ihm Hände und Füße erstarren. Beinahe wären ihm die Füße am Boden festgefroren. Aber er machte einen großen Sprung und erreichte das zweite Zimmer. Flammen schlugen ihm entgegen und versengten ihn, er aber durchschritt sie, und das dritte Zimmer tat sich vor ihm auf. Hier empfing ihn das Gezische von abscheulichen Schlangen. Zu Klumpen geballt lagen sie da und züngelten nach ihm. Er übersprang auch dieses ekle Gewürm und kam in das vierte Zimmer, wo ihn Fledermäuse überfielen. Trotzdem schlug er sich durch, und so kam er ins letzte der Gemächer. Wie ein Schatten schob er sich hinein. Er fand alles so, wie es der Schwager vorausgesagt hatte. Der Hexer lag in tiefem Schlaf und neben ihm stand der Sarg mit der schönen bleichen Jungfrau. An der Wand hing das goldene Horn. Im Zimmer war es ganz still. In diesem Augenblick schlug die Uhr zwölf. Der Hexer erwachte, und noch liegend rief er: „Willst du meine Frau werden?“
Aus dem Sarg klang eine traurige schwache Stimme: „Nein!“
„Also lebe und verfaule!“ schrie der Böse, und nach einer Weile schlief er wieder ein.
Da erhob sich Radowid leise und wie ein Geist trat er an das Lager und griff nach dem Horn. Schon hielt er es in der Faust, schon setzte er es an seine Lippen, da erwachte der Hexer und wollte sich auf den Kühnen stürzen. Aber Radowid war rascher. Er sprang beiseite, und bevor der Hexer ihm das Horn entwunden, hatte er dreimal hineingeblasen.
Lauter als hundert Donner waren die Töne des Horns.
Der Fels erzitterte und die mit Eis und Feuer und auch die mit den Tieren angefüllten Räume verwandelten sich in schöne Räume. Der Hexer aber zerfloß zu Wagenschmiere.
Aus dem Sarg stieg die schöne Jungfrau. Mit Tränen in den Augen dankte sie ihrem Befreier. Radowid war überglücklich. Das schöne Mädchen gefiel ihm sehr.
Bald machten sie sich auf den Weg zum jüngsten Bruder, bei dem schon die beiden älteren mit ihren Frauen und Kindern sie erwarteten. Die Freude war groß und noch größer wurde sie, als sie alle gemeinsam zu den Eltern reisten und sie gesund wiederfanden.
Unermeßlich jedoch war die Freude bei der Vermählung des Radowid mit der schönen Jungfrau. Das war eine Hochzeit! Auf dem ganzen Erdenrund hatte es so etwas noch nicht gegeben.
Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.
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