|
DIE WAISENKINDER
„Ach Gott, mein Gott!“ so jammerte einmal ein armer Bauer. „Was soll ich armer Schlucker anfangen? Zu Hause wehklagen zwölf nackte hungrige Kinder. Mein Weib hat nichts im Topf und ich kann ihr nichts geben. Woher sollte ich etwas nehmen, wenn ich so arm bin wie eine Kirchenmaus?“ Er begann seine Taschen umzudrehen, ob er da nicht etwas fände. „Oh, wo nichts ist, da ist nichts.“
Gestern hatten ihm die Kinder die letzte Brotrinde aus der Tasche genommen.
Die Not tat ihm bis ins Herz hinein weh – was sollte er tun? – Er machte sich auf den Weg und ging in die weite Welt. „Vielleicht“, sagte er sich, „gibt mir ein rechtschaffener Mensch ein wenig Brot, wenn ich ihm meine ganze Not erzähle.“
Er ging und ging auf der staubigen Straße, und er war noch nicht hundert Schritte gegangen, als er einigen armen Menschen begegnete, die gerade von der Gutsherrschaft nach Hause zurückkehrten. Da begann er sie gleich zu bitten, sie möchten sich seiner erbarmen, da er gar nichts zu essen habe.
„Drei Tage lang schon habe ich nichts zu mir genommen. Das würde mir nichts ausmachen. Aber zu Hause hungern zwölf Kinder und mein Weib. Helft mir doch in meiner Not, Gott wird es euch vergelten!“ Er bat so herzerweichend, daß auch ein Stein zu Tränen gerührt worden wäre. Aber die armen Leute konnten ihm nicht helfen, wenn sie es auch von Herzen gerne getan hätten, denn sie besaßen selbst nichts: „Wahrlich, du guter Mann, wir können dir nicht helfen. Wo nichts ist, dort kann auch der Tod nichts nehmen.“
Da wurde er böse auf die armen Leute und ging traurig weiter. Auf einmal kamen im prächtigen Wagen reiche Herren dahergefahren, und jeder hatte einen vollen Geldbeutel. Der Arme begann gleich zu betteln. Er klagte wieder seine Not und streckte ihnen die leeren Hände hin. Aber die reichen Herren behandelten ihn wie Luft. Eben weil sie so reich waren, gaben sie ihm nichts.
Obwohl er im Leben schon sehr viel Not gelitten hatte, war ihm die Last des Schicksals nie so schwer geworden wie gerade heute. Das Herz drehte sich ihm im Leibe um, aber nicht nur vom Hunger, sondern auch von schwerem Leid. „Da sieht man“, sagte er zu sich selbst, „die Armen haben nichts und die Reichen geben nichts. Wozu wird man geboren, wenn man nur Not und Leid ertragen muß?“
Er war so erschöpft und entmutigt, daß er gar nicht merkte, wohin er ging. Gegen Abend blieb er in einem Tal bei einem Bache stehen. Der hatte ganz klares Wasser und floß zwischen dichten Erlengebüschen. Am Grunde des Baches waren tiefe Löcher ausgewaschen, und in den Löchern schwammen die schönsten Forellen.
„Mein Gott“, sagte der arme Mann, „ist es wahr, oder träume ich es nur, daß ich hier so viele Forellen sehe?“ – Sei dem wie immer, er ruhte nicht eher, als bis er vierzehn Stück von diesen Forellen in seinem Bettelsack hatte. Freudig kniete er nieder und dankte Gott, daß er ihm so geholfen habe. Dann nahm er den Sack unter seine Joppe und schritt wie neu belebt kräftig aus. Bald langte er zu Hause an, wo ihn die hungrigen Kinder mit Freudentränen empfingen.
Die Mutter bereitete ein Nachtmahl, und die gehäufte Schüssel war bald geleert. Nach dem Essen gab es keine Tränen mehr, nur frohes Lachen und Plaudern, und daran waren die guten Forellen schuld. Der Vater erzählte, wie er sie gefunden hatte, und die Kinder wetteiferten vor der Mutter:
„Meine Forelle war die größte.“
„Meine Forelle war die besten.“
„Ich habe mich bis zum Halse angegessen.“
„Und ich noch mehr!“
Man muß aber wissen, daß diese Forellen von Gott gesegnet waren, und so hätte auch ein kleines Stückchen genügt, um jeden Hunger zu stillen.
Von da an brauchte die Familie nie mehr zu hungern. Der Vater ging jeden Tag, den der liebe Gott werden ließ, zu dem Bach und holte Forellen. Aber nie versäumte er es, Gott zu danken. Nur erschien es ihm sonderbar, daß er jedesmal vierzehn Forellen ganz leicht einfangen konnte, aber die fünfzehnte, die sich um seine Füße herumtummelte, nicht mehr zu erwischen vermochte.
Nun geschah es dass der Vater starb. Die arme Witwe mit den zwölf Waisen beweinte ihn und klagte den ganzen lieben Tag über seinem Grab mit ihren heißen Tränen ihre Not. Aber als sie am Abend der Hunger an die Forellen mahnte, erhob sie sich, trocknete ihre Tränen, und auch die Kinder hörten zu weinen auf. Dann gingen sie alle zu dem Bach. Unterwegs freute sich die Mutter, daß von nun an für alle Zeiten die vierzehnte Forelle übrig bleiben werde, da doch ein Esser weniger geworden war. Doch sie irrte sich. Denn als sie ins Wasser getreten war, fing sie sehr rasch dreizehn Stück, aber die vierzehnte ließ sich nicht mehr einfangen. So war es auch an allen folgenden Tagen. Sie wunderte sich jedesmal, und später ärgerte sie sich darüber, und je mehr sie ihren toten Mann vergaßt, desto zorniger wurde sie über die vierzehnte Forelle, die sie nie einfangen konnte. Einmal dachte sie: Du bist doch noch nicht so alt, daß du nicht einen anderen Mann bekommen könntest. Aber womit würdest du ihn bewirten, wenn kein Stückchen Brot im Hause wäre? Sie grübelte immer darüber nach, und es ließ ihr keine Ruhe, bis sie einen Ausweg fand: sie wollte jeden tag die dreizehnte Forelle aufheben, für den Fall, daß unerwartet ein Freier kommen würde.
Von diesem Tage an wurden die Kinder verkürzt. Denn keins bekam mehr eine ganze Forelle, weil die Mutter jeden Tag eine beiseite legte.
Der liebe Gott blickte aus dem hohen Himmel auf all das herab und sah, wie die Frau mit seinem Himmelsgeschenk umging, und grollte ob ihrer Unredlichkeit. Er befahl einem Engel, dem Tod zu sagen, er möge die Frau vor seinen göttlichen Thron bringen, bevor sie noch größeres Unrecht beginge.
Der Engel aber flog nicht zum Tode, wie es der göttliche Befehl forderte, sondern auf die Erde nieder und sah die Frau gerade mit ihren zwölf Kindern vom Bach heimkehren, wo sie dreizehn Forellen gefangen hatte. Als alter Bettler verkleidet trat er in ihr Haus und bat um ein Obdach für die Nacht.
Die Frau schaute ihn an, und als sie sah, daß er nur ein alter Bettler war, sagte sie ihm, daß sie wahrlich keinen Platz für ihn habe, er solle weitergehen, um anderswo unterzukommen. Aber als der Bettler flehentlich bat, dableiben zu dürfen, er wolle ja nichts zum Essen haben, nur ein Fleckchen zum Ausruhen, es könne sein wo immer, da erlaubte es ihm die Witwe, daß er sich in einen Winkel bei der Tür niederlegte.
Der Bettler kauerte sich in den Winkel, er konnte aber die ganze Nacht nicht einschlafen, weil die Kinder nicht aufhörten zu lärmen. Bald wollte das eine Wasser trinken, bald das andere besser zugedeckt werden, das dritte weinte ohne Grund, das vierte juckte etwas, und so ging es die ganze Nacht fort, und die Mutter stand jedesmal auf und bediente jedes, damit es nicht weine. Und am Morgen mußte sie jedes wecken, waschen, kämmen und anziehen.
Von all dem war der Bote Gottes von tiefstem Mitgefühl gerührt, und anstatt daß er jetzt zum Tode gegangen wäre mit dem Auftrag seines Meisters, kehrte er in den Himmel zurück zum lieben Gott und bat ihn, erzählen zu dürfen, was er in dieser Nacht gesehen und erlebt hatte.
„Nun, was hast du gesehen?“ fragte ihn der Herr.
„Großer Herr und Gott, was ich gesehen habe? Ich ging am Abend zu der Witwe und bat sie um ein Obdach. Sie beherbergte mich und seither weiß ich, daß, wenn wir diese Frau von der Erde wegnehmen, die Kinder eines nach dem anderen zugrunde gehen werden. Nie könnten sie heranwachsen ohne Mutter. Die ganze Nacht konnte ich kein Auge schließen, weil bald ein Kind nach Wasser verlangte, bald das andere schrie, weil es nicht zugedeckt war, bald das dritte weinte – und wer mußte allen helfen? Die arme Mutter mußte sich immer wieder erheben und immer wieder die Kinder bedienen. Und früh morgens gab es überall viel Arbeit. Sie mußte alle wecken, waschen, kämmen und anziehen. Wäre es nicht doch besser, wenn du die Frau noch so lange leben ließest, bis wenigsten eines oder zwei von den Kindern erwachsen sind?“
„Hm, hm“, der Herr schüttelte den Kopf und begann zu reden: „Siehst du dort unten auf dem Meere, genau in der Mitte, den nackten Felsen? Dorthin wirst du jetzt gehen! Zerreiße diesen Felsen in lauter kleine Stücke bis auf den Grund des Meeres hinab und dann melde mir, was du dort gefunden hast.“
Der Engel befolgte den Befehl des Herrn. Er stieg hinunter, zerbrach den Felsen in kleine Stücke, und als er ihn bis auf den Meeresgrund hinab zerbröckelt hatte, kehrte er in den Himmel zurück.
„Nun, hast du den Felsen zerrissen?“
„Ja, Herr, ich habe ihn in kleine Stücke zerbröckelt!“
„Und was hast du in ihm gefunden?“
„Ach, nichts, was der Rede wert wäre. Nur tief in der Mitte habe ich einen kleinen Wurm gefunden, kleiner als ein Mohnkörnchen.“
„Hat der Wurm noch gelebt?“
„Er lebte. Er wand sich noch herum, als ich ihn berührte.“
„Und wie konnte er dort leben?“
„Ja“, der Engel zuckte die Achseln, „das weiß ich nicht.“
„Nun, aber ich weiß es“, sagte der Herr. „Und genau so gut habe ich auch gewußt, wie ich die zwölf Waisen beschützen würde, wenn ich ihre Mutter vor meinen Thron rief. Du aber wirst zur Strafe für deine Unfolgsamkeit aus dem Himmel verstoßen. Auf der Erde sollst du fortan leben. Komme mir nie mehr unter die Augen!“
In diesem Augenblick sank der Engel zur Erde nieder, wo er von nun an statt in himmlischer Herrlichkeit in irdischer Not lebte und im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdiente. Seine einzige Freude war es, sich an die zwölf Waisen zu erinnern, denn er glaubte, ihnen viel Gutes getan zu haben, weil er ihnen die Mutter erhalten hatte.
Einmal machte sich der Engel auf den Weg zu der Witwe mit den zwölf Waisen, um zu sehen, wie es ihnen inzwischen ergangen war.
Oh, jetzt sah es in dem elenden Häuschen ganz anders aus als früher! Einen alten Soldaten – weiß Gott, woher er gekommen war – der sonst wohl nirgends auf der Welt einen Unterschlupf gefunden hätte, den hatte die Witwe zum Mann genommen. Gleich am Hochzeitstag, als sie wieder Forellen fangen wollte, fand sie aber keinen einzigen Fisch im Bach und auch späterhin gab es nie mehr eine Forelle im Wasser. Schon am zweiten Tag hatte die Frau nichts mehr für den Mann zu essen, und er begann sie zu schlagen, und schlug sie und die Kinder von dieser Zeit an jeden lieben Tag, den Gott werden ließ, so daß alle schon einen ganz blauen und angeschwollenen Rücken hatten. „Wozu hast du“, rief er, „einen Mann genommen, wenn du für ihn nichts zum Beißen hast?“ Und die armen Kinder hatten gar sehr zu leiden unter dem neuen Vater, denn er war zu ihnen wie der Teufel.
Als nun der Engel zu ihnen kam, saßen sie draußen auf dem Kehrichthaufen und waren zerschlagen und vom Hunger gequält. Kaum konnte sie der frühere Bote Gottes wiedererkennen, so hatte sie das Elend verändert.
Und als sie erzählten, wie es ihnen jetzt erging, wie sie der neue Vater schlug und wie sich die Mutter nicht mehr um sie kümmerte, da war der Engel von all dem Leid, das sein Ungehorsam verursacht hatte, tief erschüttert. Er fiel auf die Knie und tat von dem Augenblick an nichts anderes mehr, als Gott zu bitten, daß er die Kinder nicht seines Ungehorsams wegen leiden lassen möge. Nach langem, langem Bitten ließ sich Gott der Herr erweichen. Er nahm den Engel wieder in Gnaden auf und befahl ihm, die Seelen der zwölf Kinder in den Himmel zu holen.
So legte sich der Bote Gottes eines Nachts wie ein schwerer Traum den Kindern auf die Brust und nahm ihnen im Schlaf die Seelen – Gott allein weiß, wie – und brachte sie in den Himmel vor den Herrn. Der liebe Gott verteilte sie gleich auf dem Firmament als kleine Sterne, wo sie heute noch in stillen Nächten als Sternbild am Himmel leuchten.
Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.
|
|