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DIE ARME HANKA
Wie ein Finger an einer verstümmelten Hand, so verlassen war die arme Hanka in der weiten Welt. Vor drei Jahren war ihre gute Mutter gestorben. Der Vater heiratete wieder, und das wurde sein Unglück. Die zweite Frau zog ihm das Blut aus dem Herzen, so daß er austrocknete wie ein Holzspan in der Sonne – und starb. Auch der Bruder und die Schwester waren gestorben, nur Hanka blieb am leben.
Wer sie sah, mußte aus Mitleid weinen. Ihre Lippen waren geschwollen von den Schlägen, die ihr die böse Stiefmutter auf den Mund gegeben hatte, ihr Rücken war rot von der Rute, die Hände zersprungen und zerschunden von schwerer Arbeit, die Augen gerötet von Tränen, das bleiche Antlitz verfallen vom Schmerz und die Wangen hohl vom Hunger. Statt Mehl gab ihr die böse Stiefmutter Asche, statt Milchbrei Sand, statt Brot harten Stein. Dabei schalt sie das arme Mädchen einen Faulpelz, einen Tunichtgut und würzte ihr jedes Mahl mit Flüchen. –
Hell leuchtete der Mond auf die jungen Pappeln, die aus den Gräbern hervorwachsen. Hanka steht vor dem versperrten Gittertor des Friedhofes. Sie rüttelt mit beiden Händen an den Eisenstäben und weint bitterlich. Da ist plötzlich ein alter Mann an ihrer Seite. Mit sanfter Stimme fragt er sie: „Warum weinst du, meine Tochter, und was tust du hier zu so später Stunde?“
„Ich möchte zu den Gräbern meiner Lieben, alter Mann.“
Der alte Mann aber ist Christus, der Herr, und er spricht zu ihr: „Nimm diese Rute hier und schlage damit dreimal auf die Gräber deiner Toten. Sie werden sich vor dir öffnen.“
Der alte Mann verschwindet, das Tor fliegt auf und bald steht Hanka vor dem Grabe der Schwester. Sie schlägt mit der Rute einmal auf den Erdhügel und aus der Tiefe meldet sich die Stimme der Schwester: „Wer klopft auf mein Grab?“
„Teure Schwester. Ich bin es, Hanka“, und sie schlägt ein zweites Mal und ein drittes Mal mit der Rute auf das Grab, und siehe da, die Erde tut sich auf. Auf dem Grunde des Grabes sitzt die tote Schwester, eingehüllt in ein weißes Laken. Da klagt Hanka all ihr Leid und die Tote weint mit ihr. Dann sagt sie mit schwacher Stimme: „Wende dich, Schwesterlein, wende dich dorthin, wo der Bruder liegt.“ Hanka wendet den Kopf, da verschwindet die Schwester und der Grabhügel schließt sich.
Sie geht zum Grabe des Bruders. Sie schlägt mit der Rute auf sein Grab, einmal, zweimal, dreimal, und die Erde tut sich vor ihr auf. In weißes Leinen eingehüllt sitzt der Tote in der Tiefe. Hanka klagt ihr Leid und er sagt mit schwacher Stimme: „Wende dich, Schwesterlein, wende dich dorthin, wo der Vater liegt.“
Hanka wendet den Kopf, da verschwindet der Bruder und der Grabhügel schließt sich.
Nun geht die arme Hanka zum Grab des Vaters. Nach dem ersten Schlag mit der Rute ertönt aus der Tiefe seine Stimme: „Wer klopft auf mein Grab?“
„Teurer Vater, öffne mir.“ Zum zweitenmal und zum drittenmal schägt sie mit der rute, der Grabhügel springt auf und unten sitzt der Tote. Auch ihm schüttet Hanka ihr Herz aus, und der vater weint mit ihr. Dann spricht er mit leiser Stimme: „Wende dich, mein Töchterlein, wende dich dorthin, wo deine Mutter liegt.“
Hanka wendet den Kopf, der Vater verschwindet, der Grabhügel schließt sich. Sie geht zum Grabe der Mutter. Ihre Tränen fließen und vor Weh will ihr das Herz.
Sie schlägt auf den Erdhügel, einmal, zweimal, dreimal. Das Grab fliegt auf und unten sitzt die tote Mutter. Hanka weint, und die gute Mutter weint mit ihr. „Wende dich, mein Kind, wende dich dorthin, wo dein Bräutigam liegt“, sagt die Mutter leise.
„Mutter“, fleht Hanka, „weise mich nicht fort, lasse mich bei dir bleiben.“ Da breitet die Mutter die Arme aus und umschlingt ihr verlassenes Kind. Die Erde erzittert und die Schollen verschütten die Mutter und das Mädchen.
Jetzt liegt die arme Hanka geborgen und erlöst von allem Erdenleid neben ihrer guten Mutter.
Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.
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