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VÖGELEIN
Irgendwo, am Fuße eines hohen, wilden Gebirges, lebten zwei arme Kinder mit ihrer Stiefmutter. Die war ein böses Weib. Sie kümmerte sich nur um ihre eigene Gurgel. Der Vater kam nur selten vom hohen Gebirge herunter, so konnten ihm die armen Waisen nicht sagen, wie die Stiefmutter sie hungern ließ.
Einmal als der vater erwartet wurde, gab es natürlich wieder kein Krümchen Brot, kein Stäubchen Mehl im Haus. Da kam dem bösen Weib ein schlimmer Gedanke. Als der Knabe so im Spiel vor der Schwester herlief, packte sie ihn, schnitt ihm den Hals durch und briet ihn in der Pfanne.
Der Braten stand auf dem Tisch, als der Vater die Stube betrat. Er ließ ihn sich schmecken. Auch wenn man ihm einen alten Teufel vorgesetzt hätte, würde er ihn gegessen haben, so hungrig war der Mann. Das Mädchen sah traurig aus einem Winkel zu. Was sie wußte, durfte sie dem Vater nicht erzählen. Sie sammelte alle Knöchlein, und als sie alle beisammen hatte, schlich sie zur Stube hinaus und vergrub sie nahe am Weg unter einem Rosenbusch.
Am nächsten Morgen waren alle Rosen aufgeblüht und auf dem Strauch saß ein Vogel, der sang ein trauriges Lied: „Die Mutter hat mich gekocht, der Vater hat mich gegessen, meine Schwester hat die Beinchen gesammelt und unterm Rosenstrauch hat sie sie vergraben. Ein Vogel ist daraus geworden, ein kleiner Vogel.“
Da kamen Tuchhändler des Weges. Sie blieben vor dem Rosenstrauch stehen und hörten dem Vogel zu. Sein Lied rührte sie so sehr, daß sie, als der Vogel verstummte, ihr Bündel öffneten, das schönste Tuch daraus entnahmen und über den Rosenstock breiteten.
Als sie fort waren, kamen Hutmacher gegangen. Wieder sang der Vogel sein Lied. Die Hutmacher blieben stehen und lauschten. Als der Vogel schwieg, öffneten sie ihre Bündel, entnahmen ihm den schönsten Hut und legten ihn auf den Rosenstrauch. Dann gingen sie weiter.
Später am gleichen Tag sang der Vogel wieder sein trauriges Lied. Steinmetze hörten ihn, die unterwegs zum Markt waren. Sie konnten sich nicht genug wundern über den seltsamen Gesang, und als der Vogel schwieg, luden sie einen großen Grabstein von ihrem Wagen und stellten ihn neben den Rosenstrauch. „Zum Dank für dein Lied“, sagten sie und fuhren weiter.
Am Nachmittag sang der Vogel so laut, daß man es bis in das Haus hinein hörte. Die kleine Schwester eilte vor die Türe, lauschte, und lief dann der lieben Stimme nach.
Sie schaute nach allen Seiten, da flog ihr das schöne Tuch in die Hand. Hinter ihr kam der Vater. Dem flog der stattliche Hut auf den Kopf.
„Wie geht das zu?“ fragte er und rief die Frau herbei. Kaum war sie da, so rollte der große Grabstein auf sie zu und begrub sie unter sich.
Da hörte das Vöglein zu singen auf und flog davon bis ans Ende der Welt. Wer mehr davon hören will, der fliege ihm nach.
Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.
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