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DER GUTE HIRTE
Ein armer Mann brachte sich mit seinen beiden Söhnen so schwer durchs Leben, daß sie alle nahe daran waren, Hungers zu sterben. Eines Tages rief der Vater seine Kinder zu sich und sagte: „Meine geliebten Söhne, so kann es nicht weitergehen. Dort draußen in der Welt findet man leichter Arbeit als hier. Einer von euch soll in die Fremde ziehen, einen guten Dienst suchen und mit viel Geld zurückkommen. Was meint ihr dazu?“
„Uns ist es recht, und wenn du es wünschest, ziehen wir beide in die Welt hinaus.“
Aber der Vater wollte nicht allein zurückbleiben. So rüstete er also nur den älteren aus, und der ging in die Fremde. Er ging lange Zeit, ohne einer lebenden Seele zu begegnen. Schließlich traf er einen alten Mann.
„Wohin gehst du, mein Sohn?“ fragte der Alte.
„Ach, guter Vater, ich suche einen Dienst.“
„Nun, mein Sohn“, sagte der Alte, „ich könnte dich brauchen, wenn du guten Willens bist.“
„Das bin ich. Sage mir nur, was ich zu tun habe.“
„Nichts anderes, als meine zwölf Schafe hüten. Darauf verstehst du dich doch, nicht?“
„Gewiß, alter Vater, gewiß verstehe ich mich darauf.“
„Nun, so komm mit mir.“
Er folgte dem alten Mann und der führte ihn zu seinen Schafen. „Das, mein Sohn2; sagte er, „sind meine Schafe. Hüte sie sorgsam und laß sie nicht aus den Augen, dann werde ich dich für deine Mühe belohnen. Aber treibe sie nicht an, lasse jedes dort weiden, wo es ihm gefällt. Da hast du eine Tasche, darin findest du, was du brauchst. Und da hast du eine Flöte. Auf der kannst du, wenn du Lust hast, spielen.“
Der Hirte trieb die Schafe auf die Weide und ging langsam hinter ihnen her. Sie weideten fleißig und kamen allmählich an einen Fluß. Da liefen sie ins Wasser und schwammen hinüber ans andere Ufer. Der Hirte wäre ihnen gerne gefolgt, aber er konnte nicht schwimmen, und der Fluß war breit und tief. Nun hatte er Angst um seine Tiere und begann zu weinen. Traurig ging er längs des Flusses auf und ab und beobachtete das andere Ufer. Dabei wurde er sehr müde; so warf er sich zu Boden und schlief fest ein, schlief und schlief, und als er die Augen aufschlug, fiel sein erster Blick auf das jenseitige Ufer; und siehe da, die lieben Schafe näherten sich gerade dem Fluß und schwammen alsbald zurück.
„Gott sei Lob und Dank, daß ihr zurückgekehrt seid!“ Fröhlich pfeifend ging er mit den Tieren nach Hause.
Der alte Mann hatte ihn schon erwartet. „Nun, hast du mir meine Schafe gut gehütet?“
„Ja, Vater, sie haben sich sattgefressen, aber ich weiß nicht, wo sie auf der Weide gewesen sind.“ Und er erzählte, was er erlebt hatte.
„Gut, mein Sohn“, nickte der Alte. „Nun sage mir, was du für deinen Dienst verlangst, denn du bist schon ein ganzes Jahr bei mir.“
„Guter Vater, gib mir, was du entbehren kannst, denn wir sind sehr arme Leute.“
Da gab ihm der Alte soviel Geld, wie der Bursche tragen konnte.
Als er damit nach Hause kam, war die Freude groß. Nun waren sie aller Sorgen ledig. Doch der andere Bruder wollte auch sein Glück in der Welt suchen. Und er begab sich ebenfalls auf die Wanderschaft.
Er ging den gleichen Weg, den sein Bruder gegangen war, und traf den alten Mann.
„Wohin gehst du, mein Sohn?“ fragte der Alte.
„in die Welt, bei guten Leuten Arbeit suchen.“
„Bei mir kannst du Arbeit finden, wenn du willst.“
„Gerne gehe ich mit dir, aber werde ich die Arbeit leisten können, die du verlangst?“
„Kannst du Schafe hüten?“
„Ja, das kann ich.“
„Dann komm mit mir“, und der Alte führte den Burschen in sein Haus.
Am nächsten Morgen ging der alte Mann mit dem Hirten zu den Schafen. „Das sind meine Schafe“, sagte er, „es sind zwölf, wenn du zählen kannst. Hüte sie gut und lasse sie nicht aus den Augen. Ich will dich dafür reich belohnen. Aber du darfst sie nicht antreiben, sondern mußt sie frei laufen lassen, jedes wohin es will. Da hast du eine Tasche und hier eine Flöte, damit du dir auf der Weide ein Lied spielen kannst.“
Der hirte ging hinter den Schafen einher. Sie liefen nicht auseinander und er blies auf der Flöte und war guter Dinge. Da kamen sie an den Fluß und die Schafe
Warfen sich ins Wasser. Der junge hirte überlegte nicht lange. Er griff einem Schaf in die Wolle und ließ sich von ihm ans andere Ufer ziehen.
Drüben ging er wieder flötend den Tieren nach. Sie kamen auf eine Wiese, auf der das Gras dem Hirten bis zum Gürtel reichte; viele Schafe weideten hier, aber alle waren mager. Ach du lieber Gott, dachte der Junge, warum sind denn diese Schafe so mager, wenn sie auf der üppigen Wiese weiden?
Und weiter ging er hinter seinen Tieren her. Die verweilten nicht auf der üppigen Wiese, sondern zogen auf eine andere, auf welcher das Gras ganz niedrig stand. Aber sicher war es besonders nahrhaft, denn die Schafe, die hier weideten, waren alle so wohlgenährt, als hätte man aus unermeßlichen Herden die fettesten ausgesucht. Hier blieben die zwölf Schafe und weideten so brav, daß es eine Freude war, ihnen zuzuschauen. Und wohin immer sie gingen, überall schwebte über ihnen in den Lüften ein lieblicher Vogel.
Als die Schafe satt waren, wendeten sie sich zur Heimkehr. Sie kamen wieder an den Fluß und der junge Hirte ließ sich wieder von einem Schaf hinüberziehen. Vor Einbruch der Nacht kamen sie ins Haus zurück. Der Alte hatte schon gewartet.
„Sind meine Schafe satt geworden?“
„Gewiß, lieber Vater, Gott sei gelobt.“
„Wie ist es dir dabei ergangen?“
„Ich habe so getan, wie du mir befohlen hast. Überallhin bin ich ihnen gefolgt.“ Und er erzählte, was er erlebt hatte.
„Ich bin mit dir zufrieden, mein Sohn“, lobte ihn der Alte. „Jetzt sage mir, was du für deine Dienste verlangst, denn du bist schon ein Jahr bei mir. Ich gebe dir, was du dir wählst: meinen Segen oder Geld.“
„Ach, guter Vater“, sagte der Hirte, „gib mir deinen Segen, Geld hat mein älterer Bruder genug heimgebracht.“
„Mein teurer Sohn, du sollst meinen Segen haben. Siehe, ich bin Christus, der Herr. Die zwölf Schafe, die du gehütet hast, sind meine Apostel. Die Wiese mit dem üppigen Gras, das sind die irdischen Freuden, und die mageren Schafe, das sind die Kinder des weltlichen Lebens. Die Wiese mit dem niedrigen gras bedeutet die himmlische Tugend, und die fetten Schafe, das sind die rechtschaffenen Menschen. Auf der üppigen Wiese findet die Seele wenig, aber auf der himmlischen Wiese findet sie viel Nahrung. Und der Vogel, der über den Schafen schwebte, das war ich. Denn ich bleibe bei meinen Schafen in alle Ewigkeit.“
So sprach der alte Mann. Dann segnete er den Hirten und gab ihm soviel Geld mit, wie er tragen konnte.
Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.
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