DES ALTEN KÖNIGS ZWEITE FRAU

Ein König hatte einen Sohn und den liebte er so sehr, daß er ihn nicht für den Besitz der ganzen Welt eingetauscht hätte. Er freute sich an ihm, der gute Vater. Er freute sich. Aber der Mutter war die Freude an ihrem Kinde nicht lange vergönnt. Die Ärmste wurde krank und starb. Es weinte der alte König, es weinte der Sohn, es weinte das ganze Land um die gute Königin.
Aber wisset, alles auf Erden hat seine Zeit. Nach einem Jahr warf der alte König die Trauer von sich und verheiratete sich von neuem. Er bekam eine schöne und junge Frau, aber sein Sohn bekam keine gute Mutter.
Des alten Königs junge Frau quälte den armen Prinzen so sehr, daß dieser, um endlich Ruhe vor ihr zu haben, eines Tages seines Vaters Schloß verließ und in die weite Welt zog.
Er ging lange, lange, über Berge und Täler, durch unwegsames Gelände und verirrte sich schließlich in einem wilden Gebirge. Plötzlich erspähte er einen Pfad. Er folgte ihm und stand endlich vor einem großen schwarzen Schloß.
Er ging hinein, als wäre er eingeladen, er durchschritt das Tor, er kam über den Hof bis in die Eingangshalle, kein Mensch begegnete ihm. Er öffnete eine Tür und kam in eine Kammer und dort sah er eine alte Frau, die mit einer großen Brille auf der Nase über ein dickes Buch gebeugt war. Sie war so vertieft, daß sie den Prinzen gar nicht bemerkte. Erst als er laut grüßte: „Ich wünsche Euch einen guten Abend, altes Mütterchen“, hob sie den Blick und sagte freundlich: „Sei willkommen, Prinz Karel, ich habe dich erwartet. Du kannst bei mir bleiben. Du mußt mir nur alle meine Bücher vorlesen, denn meine Augen sind schon schwach.“
Dem Prinzen war dies recht, er blieb. Er las aus großen Büchern von früh bis abends, durch Wochen und durch Monate und fand so viel gefallen daran, daß drei Jahre dahingeflogen waren, ohne daß er es gemerkt hatte.
Eines Morgens sagte die alte Frau zu ihm: „Mein Sohn, du hast genug gelernt, jetzt kann ich dich wieder entlassen. Geh zurück in dein Land. Zum Dank für dein Vorlesen nimm hier dieses Gewand. Es sieht zwar ganz gewöhnlich aus, aber es hat die Eigenschaft, daß nichts Böses an dich herankann, solange du es am Leibe hast. Nun geh in Gottes Namen, du bist mutig, klug und fromm und wirst das Richtige im Leben tun.“
Mit Tränen in den Augen dankte der Prinz. Er zog das Wunderkleid an und ging in sein Reich zurück. Aber was mußte er da hören. „Es ist ein Elend“, sagte ihm ein Handwerksbursche, der des Weges kam, „unser junger Prinz ist vor vier Jahren in die Welt gezogen und man weiß nichts von ihm. Unser guter, alter König ist vor Gram darüber gestorben, und seine zweite Frau steht mit dem Nachbarkönig im Streit. Zwei Jahre bekriegt sie ihn schon, wir können keine Soldaten mehr aufbringen, weiß Gott, was daraus werden soll.“
Als der Prinz dies hörte, ging er rasch in das Schloß, das früher sein Eigen gewesen war. Des Königs zweite Frau erkannte ihn gleich und sie tat gar freundlich zu ihm. Sie gab ihm zwanzig Ritter, die er verlangte, und er ritt an der Spitze dieser Schar dem Feind entgegen. Auf blutgetränkten Wegen näherte er sich ihm, zog den Säbel und rief seinen Reitern zu: „Mir nach, meine Burschen!“ Und sie stürzten sich mit aller Macht in die feindlichen Reihen. Unaufhaltsam drang Prinz Karel vor bis zum Zelte des Königs. Als der das Ungewitter herannahen sah, setzte er sich eilends auf sein Roß und jagte davon. Der siegreiche Prinz aber zog in seine Stadt ein, und das Volk freute sich, daß sein junger Herr wiedergekommen war. Da gab es frohe Feste, wie man ihresgleichen noch nie gesehen hatte.
Nun war der junge Prinz König und er war so weise und gut, daß sich ihm kein anderer König auf der ganzen weiten Welt vergleichen konnte. Seine Untertanen leibten ihn und er sorgte für sie wie ein Vater für seine Kinder. Im ganzen Reiche gab es nur Frohsinn und Zufriedenheit. Bloß des alten Königs zweite Frau war nicht zufrieden, denn sie langweilte sich. Eines Abends trat sie in des prinzen Gemach und sprach zu ihm: „Schau, mein lieber Sohn, du kannst als König nicht immer so angezogen sein wie irgendein Bauernjunge. Hier habe ich ein Gewand aus purem Golde. Ich selbst habe es für dich gewebt. Kleide dich darein, es ist deiner würdiger als dieses schlechte Wams, das du nie ablegen willst.“ Der junge König dankte ihr, aber er nahm das Geschenk nicht an, denn er erinnerte sich an die Worte der alten Waldfrau: „Solange du dieses einfache Gewand am Leibe hast, kann nichts Böses an dich heran.“ Das hatte sie gesagt.
Da wurde des Königs zweite Frau gar zornig. Sie ging in ihre Kammer, braute einen Schlaftrunk und goß ihn dem jungen König in seinen Wein. Das Mittel wirkte. Er fiel in einen tiefen Schlaf.
Als er wieder erwachte, da fand er sich im unterirdischen Kerker, wohin kein Licht des Tages und keines Menschen Stimme drang. „Das hat meine Stiefmutter getan“, seufzte er, „sie will mich hier Hungers sterben lassen, aber es wird ihr nicht gelingen.“ Er hatte ja in den drei Jahren aus den vielen Büchern der Waldfrau die Kunst des Zauberns erlernt und barg sein Wissen wohlverwahrt in seinem Kopf.
So sagte er einen Spruch und im nächsten Augenblick war er ein wunderschöner Rappe und stand vor dem Königsschloß. Viele Leute kamen, das prächtige Tier zu bewundern, auch des alten Königs zweite Frau war darunter. „Dieses Pferd soll mein Reitpferd werden“, sagte sie. Aber sooft sie es auch besteigen wollte, immer wurde sie von dem edlen Tier abgeworfen. Da wurde sie böse und befahl: „Das Pferd muß morgen früh geschlachtet werden.“ Im Gefolge der Königin befand sich ein junges Mädchen, das kränkte sich, weil ein so schönes Roß hingeschlachtet werden sollte. Die junge Maid ging am Abend in den Stall, um den herrlichen Rappen noch einmal lebendig zu sehen. Mitleidig blickte sie ihn an und streichelte ihn. Da begann plötzlich der Rappe zu sprechen: „Höre, meine teure Seele, wenn du mit mir Mitleid hast, so komme am Morgen, wenn sie mich schlachten, in den Hof. Halte ein weißes Tuch bereit, fange mein blut darauf und vergrabe das Tuch unter den Fenstern der Königin.“ Das junge Mädchen küßte das Pferd und versprach alles zu tun.
Am frühen Morgen führte man das edle Tier aus dem Stall und begann darauf loszusäbeln, als wollte man es in tausend Stücke zerhauen. Das junge Mädchen stand bereit und fing den ersten Blutstrahl auf. Dann lief es zu den Fenstern der Königin und vergrub dort das blutgetränkte Tuch.
Als die Königin aus dem Fenster schaute, erblickte sie im Garten einen Baum, den sie vorher nie gesehen hatte, mit köstlichen Früchten behangen. „Diese Früchte sollen mich erfreuen“, sagte sie und ließ sie abnehmen. Aber wie sie in die erste hineinbiß, war sie sauer und auch die anderen wollten ihr nicht munden. Böse geworden, befahl sie: „Der Baum soll gefällt werden!“
Das junge Mädchen lief in den Park, um den prächtigen Baum noch einmal zu sehen. Da sprach der Baum: „Höre, meine teure Seele, wenn du Mitleid mit mir hast, so stehe nahe bei mir, sobald sie mich fällen. Den ersten Span, der zu dir fliegt, den hebe auf und brich ihn entzwei und wirf beide Stücke in die Luft.“ Das junge Mädchen küßte den Baum und versprach, alles zu tun, was er wollte.
Als die Holzfäller kamen, stand die Jungfrau schon bereit. Sie hob den ersten Span, der zu ihr hinflog, auf, zerbrach ihn in zwei Teile und warf beide Stücke hoch in die Luft. Da wurden zwei Vögel daraus. Des einen Gefieder erglänzte in funkelndem Golde, das Federkleid des anderen war grau und unscheinbar.
Als des alten Königs zweite Frau sich im Garten erging, erblickte sie den goldenen Vogel. Er saß auf einem niedrigen Gebüsch und kreischte mit häßlicher Stimme, denn seine Schönheit war nur in seinem gleißenden Gewande. Den kleinen, grauen, unscheinbaren Vogel, der daneben saß, sah sie nicht, obwohl er sang, lieblicher und ergreifender, als man je auf Erden eines Vogels Stimme gehört hat. Aber der Frau war Ohr und Herz verschlossen für dies Wunder. Sie hatte nur Augen für das goldene Gefieder und war voll Gier, den Prächtigen zu besitzen. So bemerkte sie nicht, wie der graue, kleine Singvogel sich zum Fluge erhob, mit einem jubilierendem Tirilieren dem Schlosse zuschwebte und durch ein offenes Fenster im Gemache des jungen Königs verschwand. Der Goldvogel saß ruhig da und ließ die Frau ganz nahe an sich herankommen. Wie sie die Hand nach ihm ausstreckte und ihn schon zu halten glaubte, war er ihr aber entschlüpft und ein Stück weiter geflogen. Sie lief ihm nach. Sie lief und lief, und sooft sie auch glaubte, ihn zu halten, immer war er ihr wieder entschlüpft. So lockte er sie weit, immer weiter. Sie mußte ihm folgen, besessen von dem Verlangen, ihn zu fangen. Sie vergaß die Zeit; sie vergaß ihr Schloß, sie vergaß den jungen König, sie vergaß die ganze Welt, und als ihr wieder die Erinnerung an dies alles kam, da war sie eine ganz, ganz alte Frau geworden. So viele Jahre hatte sie daran verschwendet, den Goldgefiederten zu fangen.
Der kleine graue Singvogel aber hatte sich wieder in den jungen König verwandelt, der sein unscheinbares Gewand trug, darunter aber ein goldenes Herz barg. Dies Herz schenkte er dem jungen Mädchen, das ihm geholfen hatte, da er ein Rappe war und ein Baum, und sie waren glücklich, solange sie lebten.

Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944

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