DER SIECHE KÖNIG

Hinter Bergen, hinter Tälern, weit, weit hinter dem roten See lebte ein König. Er herrschte über ein mächtiges Land, er war Herr über unermeßliche Schätze und er nannte drei schöne Töchter sein eigen. Aber all dies konnte ihn nicht glücklich machen, denn er war siech und konnte seit vielen Jahren nicht gehen. Wenn irgendwo in der Welt ein Arzt zu hohem Rufe kam, ließ ihn der König zu sich bescheiden, aber keiner von ihnen vermochte ihm zu helfen, und der arme König konnte weder leben noch sterben.
Da erschien dem gemarterten Herrscher einmal im Traum ein verhutzeltes Männlein und sprach zu ihm: „Du wirst erlöst werden von deinem Leiden, wenn sich jemand findet, der die Kirschen vom Baum in deinem Garten abnimmt.“
Der König erwachte und er gab Befehl, im ganzen Lande zu verkünden: „Derjenige, der die Früchte vom Kirschenbaum im königlichen Garten abzunehmen vermag, darf sich eine von den drei Prinzessinnen zur Frau erwählen und Herr über das Land werden.“
Da kamen viele herbei: Königssöhne und Fürsten, Grafen und Ritter. Bürger und Handwerker. Aus allen Ländern kamen sie und jeder hätte gerne eine der wunderschönen Jungfrauen gewonnen. Aber da war keiner darunter, dem es gelang, den Baum zu erklimmen, denn er war so hoch, daß seine Wipfel sich in den Wolken verloren, und der Stamm war glatter als Glas. Viele versuchten es, aber alle landeten unten mit zerschmetterten Gliedern, ohne auch nur eine einzige reife Kirsche zu Gesicht bekommen zu haben.
Die Zeit verrann, so mancher war schon am Fuße des Kirschenbaumes im königlichen Garten zerschellt, und die drei Prinzessinnen waren darüber alt geworden; alle drei starben sie. Aber der König konnte nicht sterben. Er mußte leben und leiden. Da kam von ungefähr ein Wanderbursche in das Land des siechen Königs. Auch er hörte von seiner Not. Er überlegte nicht lange und eilte nach der Stadt und geradewegs in den Palast. Ohne Furcht trat der Bursche vor den König, der, bis auf die Knochen abgemagert, auf seinem Bette lag. „Hochherrlicher König, ich bin der Janko aus Blatno und ich werde dir die Kirschen von deinem Baume pflücken. Ich tu’ es um Gotteslohn und nicht, um Erbe in deinem Reiche zu werden.“
„Du guter Junge, laß ab von deinem Vorhaben, es erwartet dich der Tod“, sagte traurig der kranke König.
Aber Janko ließ sich nicht abweisen. „Hochherrlicher König, ich will gerne mein Leben wagen, um Euch zu helfen.“
Der König überlegte lange, dann sagte er leise: „Versuche es, wenn du so festen Willens bist. Vielleicht hat dich Gott gesandt.“
Janko war sehr froh. Er ließ sich drei Gewänder geben, zog alle drei an, eines über das andere, steckte drei gebackene Brote in seine Taschen und begab sich zum Kirschbaum. Er betrachtete den glatten Stamm von allen Seiten, dann zog er aus dem Gürtel ein kleines Beil und sagte: „Mein liebes Beil, jetzt gehen wir an die Arbeit.“ Er hieb das Beil kräftig in den Stamm, so hoch sein ausgestreckter Arm reichte, und zog sich am Stiel empor. Dann hielt er sich mit den Knien fest und wieder schlug er das Beil um einiges höher und höher, bis es dunkel um ihn wurde. Da hieb er noch einmal mit aller Kraft das Eisen in den Stamm und nun saß das Beil so fest, daß Janko die Nacht über leicht darauf sitzen und schlafen konnte. Beim ersten Morgengrauen war er schon munter und mit frischer Kraft arbeitete er sich weiter hinauf.
Unten am Fuße des Baumes stand die Wache die ganze Nacht und den ganzen Tag und noch viele Tage und Nächte. Sie wartete aber ganz umsonst. Janko fiel nicht herunter.
Als schon ein Monat vergangen war, sah man endlich etwas längs des Stammes heruntergleiten. Und da es zur Erde gesunken war, erkannte man ein Gewand des Janko. Es war zerrissen und mit Blut befleckt. „O weh, er ist tot“, sagten sie.
Und da war wieder ein Monat vergangen und wieder kam etwas vom Baum herunter, aber es war nicht der tote Janko, es war nur sein zweites Gewand!
Als noch ein Monat vergangen war, da war Janko schon ganz hoch, nahe der Baumkrone. Er verschnaufte ein wenig und kann kletterte er zu den ersten Ästen. Nun sollte man meinen, daß er die ersten Kirschen pflückte für den kranken König. Aber damit hatte es noch gute Weile.
Janko saß auf einem dicken Ast und schaute und schaute. Denn vor ihm stand ein großer, prächtiger Palast mit einem großen goldenen Tor. Das Tor stand weit offen. Janko sah dahinter einen herrlichen Garten und in diesem Garten ein wunderschönes Mädchen. Er mußte es immerzu anschauen, so schön war es, und darüber vergaß er die Kirschen und den siechen König. Rasch sprang er auf und eilte zu der Schönen. „Herrin, wollt ihr mich zu Eurem Diener machen?“.
„Du kommst recht. Ich habe dich erwartet“, sagte sie freundlich und führte ihn ins Schloß.
Nun vergingen die Tage für Janko mit Schauen und Staunen. Solche Herrlichkeit hatte er noch nie gesehen. Aber das Schönste war seine Herrin. Und wie gut sie zu ihm war. Sie gab ihm die prächtigsten Gewänder und die Schlüssel zu allen Zimmern im Palast. „Du bist Herr hier“, sagte sie. Er hätte ihr am liebsten einen Kuß gegeben, aber das getraute er sich doch nicht. So stolzierte er im palast herum, von einem Saal in den anderen, und alles was er sah, war sein. Darüber verging viel Zeit, er wußte nicht wieviel.
Eines Tages kam er zu einer Tür, in deren Schloß keiner seiner Schlüssel passen wollte, sosehr er sich auch mühte, den richtigen zu finden.
„Was ist hinter jener Türe?“ fragte er seine Herrin.
Da wurde sie sehr böse. „Kümmere dich nicht darum!“ schrie sie ihn an und so zornig war sie, daß sie ganz häßlich aussah.
Aber Janko ließ die verschlossene Tür keine Ruhe. Er freute sich nicht mehr an der Herrlichkeit des Schlosses, die schönsten Blumen im Garten gefielen ihm nicht und selbst seine Herrin mochte er nicht mehr anschauen. Er saß viele Stunden vor der Türe und mühte sich, selbst einen Schlüssel dazu anzufertigen. Und wirklich – es gelang ihm. Es war ein ganz kleines, feines Schlüsselchen. Er drehte es im Schloß um – die Türe sprang auf, er blickte in ein kleines Zimmer – und nichts war darin. Nur ein kleines Fenster hoch oben an der Decke und dahinter ein Stück Himmel. „Ich muß doch einmal sehen, was hinter dem Fenster ist“, sagte Janko, eilte in den Hof und holte sich eine Leiter. Er stellte sie an die Wand unter das kleine runde Fenster, kletterte hinauf und schaute, schaute – er schaute auf die Erde hinunter, sah den siechen König und sah hier oben den Baum mit den Kirschen.
Da schämte sich Janko gar sehr, daß er über all seinem Vergnügen auf den armen kranken König vergessen hatte. Er stieg von der Leiter und eilte aus dem Palast. Seine schöne Herrin vertrat ihm den Weg. Sie wollte ihn nicht fortlassen. Denn sie war eine Zauberin und wollte immer das Böse. Und weil der sieche König immer das Gute wollte, war er ihr Feind, sie haßte ihn und wollte es nicht zulassen, daß ihm jemand die Kirschen und damit Erlösung von seinem Leiden bringe. Sie versprach Janko viele gute Dinge, wenn er bei ihr bliebe. Aber der kleine, feine Schlüssel hatte nicht nur die versperrte Tür geöffnet, er hatte auch Jankos Herz aufgeschlossen, und das war nun voll Mitleid mit dem kranken König. Er hatte nur den einen Wunsch, ihm zu helfen, und so achtete er nicht auf die Reden der Zauberin; er lief zum Kirschbaum und pflückte Früchte, soviel er nur konnte. Dann begann er den Abstieg. Wie war der schwer. Oft war er nahe daran, auf dem glatten Stamm abzugleiten, aber schließlich kam er doch mit heiler Haut unten an, obschon er halb verhungert war.
Er nahm sich aber nicht erst zeit zum Essen und sich auszuruhen. Gleich lief er zum König und brachte ihm die Kirschen. Der sieche König aß sie und alle Schmerzen wichen von ihm. Er lächelte glücklich und dankbar und schloß seine müden Augen; und er erwachte nicht mehr. Da wurde Janko König über das Land.

Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944

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