DIE SCHÖNE JUNGFRAU MAHULENA

Ein König hatte einen Sohn und er liebte ihn über alles. Einmal streifte der Prinz durch die vielen Zimmer des väterlichen Schlosses; da fand er in einem Winkel hinter dem Ofen ein wundervolles Mädchenbildnis. „Kann es denn wirklich auf der Welt eine so schöne Jungfrau geben?“ fragte der Prinz voll Entzücken seinen Vater.
„Ei, freilich“, sagte der König. „Aber wo diese schöne Jungfrau zu finden ist, wissen wir nicht.“
Der junge Prinz stand wie verzaubert vor dem Bild, und je länger er es anschaute, desto stärker wurde sein Wunsch, die schöne Jungfrau zu suchen. Der Vater wollte ihn aber nicht fortlassen. „Ich werde die Jungfrau von meinen treuen Dienern suchen lassen“, sagte er, „warum solltest du dich selbst bemühn, wenn du der Sohn des Königs bist.“
Gleich rief er alle Höflinge und Räte zu sich. Er befahl ihnen, in aller Welt nach der Jungfrau zu forschen, die er ihnen auf dem Bilde zeigte.
Die Höflinge machten sich auf den Weg. Sie durchsuchten das ganze Königreich und auch alle Gaue über die Grenzen hinaus, hinter den höchsten Bergen. Aber nach einem Jahr kamen sie unverrichteter Dinge zurück.
Der Älteste unter ihnen trat vor den König und sprach: „Wir kommen so nicht zum Ziele. Die Schöne muß aber gefunden werden, denn unser Prinz vergeht vor Sehnsucht nach ihr. Höret also meinen Rat: Durch unsere Stadt kommen gar viele Menschen, und wenn wir nun alle Brunnen sperren und nur den Brunnen im königlichen Schloß offen lassen, muß jeder, ob fremd, ob heimisch, von hier das Wasser schöpfen. Zum Brunnen stellen wir eine Wache; die muß jeden, der trinken will, nach der Jungfrau ausforschen. So werden wir den Weg zu ihr wohl finden.“
Dem König und seinen Rittern gefiel der Vorschlag. Noch am selben Tage wurden alle Brunnen der Stadt verschüttet, nur der eine im Königsschloß blieb offen, und neben diesem Brunnen wurde eine Wache aufgestellt.
Zahllose Menschen kamen, Fremde und Einheimische. Jeder bekam Wasser, jeder wurde nach der schönen Jungfrau gefragt, deren Bildnis man neben dem Brunnen aufgestellt hatte, aber niemand kannte sie.
Einmal kam ein Wanderer des Weges; er war verstaubt und von der Sonne gebräunt. Als er um Wasser bat, mußte er der Wache Rede stehen: „Sage uns erst, ob dir diese Jungfrau bekannt ist, deren Bild du hier siehst.“
„Ich bin gar weit in der Welt herumgekommen, habe vieles gehört und auch von dieser Jungfrau wurde mir erzählt. Man nennt sie die schöne Jungfrau Mahulens. Den Weg zu ihr kenne ich nicht, aber vielleicht werde ich ihn finden, wenn ich suche.
Man brachte den Wanderer vor den König und ihm mußte er noch einmal sagen, was er von der Jungfrau wußte.
„Ist sie wirklich so schön wie dieses Bild hier?“ fragte der Prinz.
„Viel, viel schöner soll Mahulena sein.“
Da bat der Prinz seinen Vater, ihn in die Welt ziehen zu lassen, um selbst Mahulena zu suchen, sonst müsse er sterben. Schweren Herzens fügte sich der alte König, aber er bat den Wanderer, den Jüngling zu begleiten.
„Das will ich gerne, wenn euer Sohn mir gelobt, immer das zu tun, was ich von ihm verlange.“
Und der Prinz gab das Versprechen.
Der Wandersmann und der Prinz gingen schon lange Zeit. Über finstere Berge waren sie gekommen, über weite Ebenen, durch düstere Wälder und enge Talschluchten.
„Was sollen wir hier?“ murrte der Prinz. „Hier werden wir Mahulena nicht finden.“
„Erklettere den Baum, luge aus nach allen Richtungen und sage mir, was du siehst“, befahl der Wanderer.
Der Prinz tat, wie ihm geheißen.
„Ich sehe Finsternis und weit, weit von hier ein Lichtlein schimmern.“
„Merke dir die Richtung, wir müssen das Licht aufsuchen.“
Der Prinz stieg vom Baum herunter und wies die Richtung. Es war so finster wie in einem Keller. Lange gingen sie durch dieses Dunkel, aber endlich leuchtete das Lichtlein nahe vor ihnen auf. Es kam aus dem Fenster einer einsamen Hütte. Die Türe war offen, so traten sie ein. Vor einem Tische saß ein weißhaariger Greis über ein großes Buch gebeugt. Er las und schrieb und achtete nicht der beiden.
„Gott zum Gruß!“ sagte der Prinz.
Der Alte gab keine Antwort.
„Dürfen wir hier nächtigen?“ fragte der Prinz.
Der Alte schwieg, las und antwortete nicht.
„Legen wir uns nur ruhig in einen Winkel und stören wir ihn nicht“, sagte der Wanderer, und sie taten es.
Der Prinz schlief sogleich ein. Der Wanderer wachte und schaute.
Um Mitternacht klopfte es ans Fenster. Der Alte erhob sich, öffnete und drei Knaben flogen heriein. Der Alte berührte sie mit seinen Händen, da fielen die Federgewänder von den Knaben ab und drei Mädchen standen vor ihm.
„Wer sind die Gesellen dort in der Ecke?“ fragte die eine.
„Wanderer sind sie. Laßt sie ruhen, sie sind müde.“
„Wenn sie uns aber belauschen?“
„Sie schlafen, und selbst wenn sie nicht schlafen, verstehen sie unsere Rede nicht. Darum erzähle, was du weißt.“
Aber der Wanderer schlief nicht und er verstand gar wohl ihre Rede, denn er war weise.
„Ein junge Prinz ist ausgezogen, die schöne Jungfrau Mahulena zu suchen“, hörte der Wanderer die eine sagen.
„Er wird sie nicht finden“, sagte die zweite, „wenn er die leichten Wege geht.“
„Und wenn er sie findet“, sagte die dritte, „so wird er sie nicht gewinnen, wenn er ihr Herz nicht rührt.“

Die Uhr schlug eins, da verwandelten sich die drei Mädchen wieder in Raben und flogen davon. Der Alte aber schrieb, was er gehört hatte, in sein Buch ein.
Am frühen Morgen weckte der Wanderer den Prinzen. Sie dankten dem Greis, er achtete ihrer nicht und sie gingen ihrer Wege.
Sie gingen und gingen viele Tage, und die Nächte verbrachten sie in Herbergen oder im Freien, wie es sich gerade schickte. Sie kamen an vielen Zweigwegen vorüber, die der Prinz gerne gegangen wäre, denn sie waren breit und glatt und weich und links und rechts von Bäumen und Blumen eingesäumt und liebliche Mädchen boten lockende Früchte dar. Aber der Wanderer wehrte dem Prinzen, auf diesen Wegen zu gehen. Und war der darob auch unwillig, er mußte sich fügen, denn er hatte gelobt zu gehorchen. Er mußte mühevolle, entbehrungsreiche Wege gehen und eines Tages standen sie vor einem Schloß und in dem Schloß wohnte die schöne Jungfrau Mahulena.
Der Prinz war glücklich. Am liebsten wäre er gleich ins Schloß gegangen und geradewegs zu der Jungfrau. Aber der Wanderer hielt ihn zurück. „Erst mußt du ruhen und dich erfrischen.“ Und so geschah es.
Am nächsten Tag sprach der Wanderer: „Nun kleide dich, wie es einem Königssohn geziemt, und begib dich ins Schloß. Man wird dich zu Mahulena führen. Senke die Augen zu Boden und wage es nicht, deinen Blick höher als bis zu ihren Knien zu heben.“
Der Prinz gehorchte; er wurde gar freundlich aufgenommen und freundlich entlassen: „Komm morgen wieder“, sagte Mahulena.
Am anderen Tag sprach der Wanderer: „Geh ins Schloß, lasse dich zur Jungfrau Mahulena führen. Senke deine Blicke zu Boden und erhebe sie nicht höher als bis zum Gürtel, der Mahulenas Kleid umschließt.“ Und auch diesmal erlaubte ihm die Jungfrau, morgen wiederzukommen.
Am dritten Tag sagte der Wanderer: „Gehe zur Jungfrau Mahulena. Senke deine Blicke zu Boden, erhebe sie von ihren Füßen zu den Knien, von den Knien zu ihrem Gürtel, von dem Gürtel zu ihrem Antlitz.“
Der Jüngling ging ins Schloß. Die Freude, heute der schönen Jungfrau ins Antlitz schauen zu dürfen, machte ihn beben. Er stand im goldenen Saal, den Blick zu Boden gesenkt. Er sah die kleinen Füße der schönen Jungfrau in den goldenen Schuhen, er sah die Knie unter dem dünnen Gewand, er sah den Gürtel aus Perlen und Edelsteinen und langsam, langsam den Blick erhebend, sah er ihr Antlitz. Es war so schön, daß er vor ihr auf seine Knie niedersank. „Ich bin nicht wert, dein Gemahl zu sein, holde selige Jungfrau“, sprach er leise.
Da hob sie ihn liebreich auf. „Du hast mein Herz geführt, ich liebe dich, ich werde dir folgen.“
Im Lande war die Freude groß, als die schöne Jungfrau Mahulena des Prinzen Gemahlin wurde. Er führte seine junge Frau heim zu seinem Vater, der ihn schon sehnsüchtig erwartete, und der Wanderer bleib bei ihnen als des Prinzen bester Freund.

Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944

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