DER KÖNIG DER ZEIT

In einem kleinen Dorf lebten zwei Brüder. Der eine war reich, der andere arm.
Einmal, als der Arme mit Frau und Kindern sehr Hunger litt, ging er zu seinem Bruder, ihn um Brot zu bitten. Da kam er aber schlecht an. „Es fällt mir nicht ein, euch zu erhalten“, schrie der Reiche, „arbeite lieber!“ und er wies ihn zur Tür hinaus.
Der Arme fand aber keine Arbeit und er getraute sich nicht zu Weib und Kindern heim; so ging er in den Wald. Unter einem wilden Birnbaum sammelte er einige von den kleinen sauren Früchten und biß hinein, froh, etwas Eßbares gefunden zu haben. Aber er wurde von diesem Essen nicht satt und kie Kälte beutelte ihn, denn von den Bergen herab wehte ein eisiger Wind.
Da erinnerte er sich, einmal gehört zu haben, daß auf einem großen gläsernen Berg ein ewiges Feuer lohe. „Dort werde ich mich erwärmen.“ Und er machte sich auf den Weg.
Schon von weitem sah er auf dem Berg aus Glas ein großes Feuer brennen; um das Feuer herum standen zwölf Männer. Vor den Männern hatte er Angst, denn sie schienen ihm unheimlich. Aber er sprach sich Mut zu: „Gott, der Herr, ist überall.“ So stieg er auf den Berg und trat zum Feuer. Er verneigte sich vor den Zwölfen und bat: „Erlaubt mir, daß ich mich hier ein wenig wärme.“ Die Männer wandten sich ihm zu und einer sagte mit sanfter Stimme: „Mein Sohn, setze dich hier nieder und wärme dich an unserem Feuer.“
Er dankte und setzte sich in den Kreis, aber da alle schwiegen, wagte auch er nicht ein Wort zu sprechen. Mit Staunen sah er, daß jeder von den Zwölfen seinen eigenen Platz mit dem des Nachbarn vertauschte. Auf diese Weise kamen die zwölf Männer allmählich im ganzen Kreis herum, und als sie nun wieder alle auf ihrem ursprünglichen Plätzen standen, da erhob sich mitten aus dem Feuer ein Greis mit weißem Bart und weißem Haar und sprach zu dem Armen:
„Mein Lieber, vertu‘ nicht unnütz dein Leben. Zwölf Stunden hast du hier verweilt und dich an unserem Feuer gewärmt. Jetzt gehe nach Hause und arbeite. Von dieser Kohle hier kannst du dir mitnehmen, wir benötigen nicht alle.“ Nach diesen Worten verschwand der Alte.
Die zwölf Männer füllten dem Armen die Taschen voll mit Kohle und hießen ihn gehen. Er dankte, aber es fuhr ihm durch den Kopf, ob die glühende Kohle seine Taschen nicht durchbrennen und ob er sie bis in sein Haus bringen werde. Aber er spürte keine Hitze und die Last war ihm so leicht, als wären Flaumfedern in den Taschen.
Er lief, so rasch er konnte, und war voll Freude, daß er den Seinen Wärme bringen durfte. Zu Hause angelangt, schüttelte er den Inhalt der Taschen auf den Herd. Aber, o Wunder, aus jedem Stückchen Kohle, aus jedem Funken war ein Golddukaten geworden. Er konnte seinen Augen nicht trauen und konnte es kaum fassen, daß dieser Haufen Goldes sein Eigen sei, und im Geiste dankte er den guten Männern vom Berge, die ihn von seiner Not befreit hatten, und nahm sich vor, von nun an keine Stunde des Lebens mehr unnötig zu vertun. Er kaufte sich Felder, Wiesen und Vieh und begann ein wohltätiges Leben.
Sein Bruder sah mit scheelen Augen auf diesen plötzlichen Reichtum und ruhte nicht eher, bis er erfahren hatte, woher das Gold kam. Er war zwar reich genug, aber sein Neid war ebenso groß wie sein Reichtum, und er beschloß, den Berg aus Glas zu suchen. „Was ihm gelungen ist, muß auch mir gelingen“, meinte er und machte sich auf den Weg.
Er kam auf den gläsernen Berg, wo das Feuer lohte, und gleich begann er den zwölf Männern, die um das Feuer standen, schön zu tun. „Gute Leute, laßt mich armen Menschen ein wenig am Feuer niedersitzen und erwärmen. Die Kälte hat mich schwach gemacht und ich fürchte zu erfrieren.“
„Mein Sohn, du bist zu einer guten Stunde auf die Welt gekommen und hast Reichtümer in Fülle; aber weil du voll Neid bist und weil du uns täuschen wolltest, bist du unserer Strafe verfallen.“
Da erfaßte den Reichen Angst und er wagte es nicht mehr, auch nur ein Wort zu sprechen.
Er sah die zwölf Männer die Plätze wechseln, immer rückte der eine auf den Platz des Nachbarn, bis wieder jeder auf seinem ursprünglichen Platz stand.
„Jetzt“, dachte der Reiche, „jetzt wird der Greis aus dem Feuer steigen und mir Kohle geben lassen.“
Aber im Feuer zeigte sich niemand und die zwölf Männer begannen aufs neue ihren Kreislauf. Immer wieder stellte sich jeder auf den Platz seines Nachbarn, immer wieder hoffte der Reiche nach Vollendung einer Runde auf das Erscheinen des Alten, aber immer wieder sah er sich in seiner Erwartung getäuscht. Lange, lange saß er so, bis er sich endlich mit Anstrengung erhob und unbeachtet von den Zwölfen aus ihrem Kreis schlich. Das Gehen machte ihm Mühe, er schleppte sich schwer vorwärts, denn er war über all dem Warten ein alter Mann geworden.

Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944

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