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DER WEG DES HERZENS
Der Königssohn Loktibrada zog hinaus in den Wald, um zu jagen. Er verirrte sich und streifte viele Tage und Nächte allein durch die Wälder. Endlich kam er in eine schmale Schlucht, die war so finster, daß er gar nichts sehen konnte, und so wußte er nicht, wohin ihn seine Schritte führten. Nach langem Wandern fand er sich plötzlich vor einer erleuchteten Burg. Vor dem Tor stand ein weißhaariger Mann, dem der Bart bis zum Gürtel reichte.
„Alter Mann, wo bin ich?“ fragte der Prinz.
„du bist hier in einer Welt, wohin keine irdische Stimme reicht.“ Der Alte nahm des Königssohnes Hand und führte ihn in einen großen Saal. In dem Saal standen drei Tische. Der eine war von Gold, der zweite war von Silber und der dritte von Eisen. Ein Knabe brachte ein ungeheures Buch, legte es auf den goldenen Tisch und schlug es auf. Er las daraus einige Namen vor und trug es dann auf den silbernen Tisch. Dort las er wieder einige Namen und legte es schließlich auf den eisernen Tisch, um auch dort noch einige Namen daraus zu verlesen.
„Was bedeuten die Namen in diesem Buch und weshalb werden immer nur einige an jedem Tisch verlesen?“ fragte der Prinz:
„Höre“, sagte der Greis. „Dieser Ort hier heißt Sitno. Von hier kommen die Seelen in die irdische Welt, um in Menschenkörpern zu wohnen. In dem großen Buch sind die Namen aller Ungeborenen eingetragen. Wessen Name der Knabe aufruft, dessen Seele kommt alsogleich von hier auf die Erde in den Körper eines neugeborenen Kindes. Jene Menschen nun, deren Namen am goldenen Tisch verlesen werden, die haben auf Erden immer Glück. Wessen Name am silbernen Tisch verlesen wird, der wird ein Schicksal haben, gemischt aus Glück und Unglück. Und wessen Name am eisernen Tisch verlesen wird, der wird unglücklich sein, was immer er im Leben beginnen mag.“
„Oh“, sagte der Prinz traurig, „ich weiß, mein Name ist am eisernen Tisch verlesen worden, denn ich habe immer Unglück.“
„So ist es“, sagte der alte Mann ernst.
„Kann mir nicht geholfen werden?“
„Dir kann geholfen werden“, erwiderte der Greis.
„Sage mir, wie“, bat der Prinz.
Aber der alte Mann schüttelte den Kopf. „Ich darf dir den Weg nicht weisen, du mußt ihn selbst finden.“ Nach diesen Worten nahm der Alte wieder des Königssohnes Hand und führte ihn aus dem Saal und zur Burg hinaus. Er gab ihm einen goldenen Knäuel. „Laß diesen Knäuel vor dir hinrollen, folge ihm und du wirst den Weg zur Erde zurück nicht verfehlen.“
Der Weg nach Hause war ihm also gewiesen. Welchen Weg aber mußte er gehen, damit sich sein Schicksal vom Bösen zum Guten wende?
Der Prinz kam zu seines Vaters Schloß. Der alte König war mittlerweile gestorben und ein fremder König hatte sich des Landes und des Schlosses bemächtigt. Er wollte von Loktibrada nichts wissen und jagte ihn zum Tor und zum Land hinaus.
Traurig ging er in die weite Welt. Lange war er schon gewandert; da kam er eines Tages zu einer kleinen, armseligen Hütte. Sie stand abseits vom Wege am Rande des Waldes. In der offenen Tür saß ein Greis und klagte: „Ich bin ein Bäcker; jetzt aber bin ich schon alt, meine Füße wollen mich nicht mehr tragen und so kann ich nicht mehr beim Backofen stehen. O weh, ich werde verhungern.“
Der Prinz hatte Mitleid mit dem Armen, der unglücklich war wie er selbst, und so blieb er bei ihm. Er lernte, wie man Brot backt, er pflegte den Alten, und als er starb, erbte er die kleine Hütte. Nun buk er weiter Brot und verkaufte es an Leute, die Geld hatten; wer keines hatte, dem schenkte er es, und da gab es ihrer bald immer mehr, die es kauften.
Einmal wurde Loktibrada durch wütendes Gebell aus dem Schlafe geweckt. Er ergriff einen derben Stock und eilte vor die Tür. Da sah er, wie ein Wolf einen Hund vor sich herjagte. Manchmal bekam er ihn zu fassen, doch immer wieder gelang es dem gemarterten Tier, sich loszureißen, bis es andlich am Rand einer Schlucht kraftlos niedersank. Da hätte ihm der Wolf sicher den Garaus gemacht, wenn sich nicht Loktibrada dazwischengeworfen hätte. Der Wolf wandte sich gegen den Mann, riß ihm eine Wunde in den Schenkel, zerfetzte ihm die Hose, mußte aber schließlich vor Loktibradas Hieben das Weite suchen. Als der Prinz sich jetzt nach dem Hunde umblickte, fand er ihn nicht. Gleich darauf hörte er sein klägliches Winseln aus der Tiefe der Schlucht. Dem Prinzen griff die Not des Tieres ans Herz, und obwohl die Schlucht fürchterlich war, überlegte er keinen Augenblick; er kletterte die schwierige steile Wand hinab. Dornen zerrissen sein Gewand und seine Haut, Steine zerschnitten ihm die Hände, aber es gelang ihm, das Tier aus der Schlucht zu befreien und in die Hütte zu bringen. Er machte ihm ein Lager beim Ofen, wusch seine Wunden und opferte das einzige Hemd, sie zu verbinden. Dann labte er den Hund mit der Milch, die ihm eine Frau an Geldes Statt für ein Stück Brot gegeben hatte. Am nächsten Morgen war der Hund verschwunden.
Einige Zeit später ging Loktibrada in den Wald, um Holz zu sammeln. Da sah er vor seinen Füßen eine junge Amsel und ganz nahe vor ihr eine giftige Schlange, die den kleinen Vogel mit ihrem bösen Blick so bannte, daß er weder fliegen noch davonhüpfen konnte, um sich zu retten. Der Prinz faßte mit raschem Griff die Schlange von hinten am Kopf. Freilich erlaubte es ihm sein Herz nicht, die Viper zu töten; er schleuderte sie nur weit fort, und der Vogel war gerettet. Er barg den Zitternden in seinen schützenden hohlen Händen und trug ihn weg von diesem gefährlichen Ort. Nachdem sich das kleine Herz der Amsel beruhigt hatte, gab er ihr die Freiheit und sie verschwand im nächsten Buschwerk.
Am selben Abend kam einer an seine Tür und jammerte, er hätte Hunger und fände kein Obdach. Er sah gar kläglich aus. Die Kleider hingen in Lumpen von seinem Körper, der von einem häßlichen Aussatz bedeckt war. Schon wollte ihn Loktibrada fortschicken, da überkam ihn Mitleid. Er führte den Bettler in die Stube und teilte und teilte mit ihm das letzte Stück Brot. Dann richtete er ihm ein Lager und sie gingen zur Ruhe.
In der Nacht klagte der Alte über Kälte. Da erhob sich Loktibrada, nahm sein Gewand vom Haken und breitete es über den Bettler.
Als er bei Sonnenaufgang erwachte, war der Greis verschwunden. Auf dem Tische aber lag ein silbernes Horn. Er glaubte, der Arme hätte es vergessen, und er nahm das Horn, stellte sich vor die Tür und blies aus voller Kraft hinein.
Er blies und blies. Der Bettler ließ sich nicht blicken, aber ein junges Mädchen kam des Weges.
„Worüber freust du dich, daß du schon am Morgen bläst?“ fragte sie und lachte.
„ich freue mich nicht“, sagte der Prinz. „Ich will nur dem, der das Horn in meiner Stube vergaß, ein Zeichen geben, damit er es sich wieder hole.“ Und wieder wollte Loktibrada das Horn an die Lippen setzen. Aber das Mädchen legte ihm ihre weiße weiche Hand auf den Mund.
„Vielleicht wollte der Fremde es dir schenken, um dir Freude zu geben“, sagte sie.
„Wer sollte mir Freude machen wollen?“ fragte traurig der Prinz.
„Ich will es tun, wenn du mit mir kommen willst.“
Loktibrada sah sie an. Sie war nicht schön, sie war auch armselig gekleidet, aber in ihrem Gesicht war so viel Frohsinn und Güte, daß er ihr gerne folgte.
Sie gingen einen langen Weg und kamen, als die Sonne sank, zu einer hohen, hohen Mauer. In der Mauer war eine kleine Tür. An diese klopfte das Mädchen dreimal. Da ging die Tür auf, ein alter Mann ließ sie ein. Dem Prinzen war es, als hätt er den Mann schon einmal gesehen. War es der Bettler, den er die Nacht zuvor beherbergt hatte? War es der Bäcker, den er gepflegt und für den er gearbeitet hatte? Oder war es gar der Alte von Sitno? Das Mädchen ließ ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie faßte ihn bei der Hand und führte ihn weiter.
Nun waren sie in einem Garten, der war so schön, wie man ihn sonst nur im Traum sehen kann. Die herrlichsten Blumen blühten und dufteten am Wege, Springbrunnen plätscherten und Vögel sangen. Eine Amsel, die immer vor den beiden her hüpfte, sang besonders schön, gerade so, als wollte sie durch ihr Lied dem traurigen Prinzen frohe Botschaft bringen.
Jetzt standen sie vor einem prächtigen Haus, da verwehrte ihnen ein Hund den Weg. Plötzlich aber, als hätte er Loktibrada erkannt, erhob er sich von der Türschwelle und leckte des Prinzen Hände wie zum Willkommen.
Loktibrada aber blieb bei dem Mädchen. Er wurde an ihrer Freude froh, und weil sie einander lieb hatten, wurden sie Mann und Frau.
Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.
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