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Die verzauberten Steine
Märchen aus der Umgebung von Heidenreichstein
Als ich daranging, eine Sage aus Heidenreichstein oder der näheren Umgebung zu suchen, die ich hier niederschreiben wollte, da bemerkte ich bald, daß gerade diese Gegend sehr sagenreich ist. Eine Unmenge verschiedener sagenhafter Begebenheiten boten sich an. Geschichten aus der Pestzeit, Wolfsgeschichten aus vergangenen Tagen, wo die Wölfe noch in Scharen das Waldviertel bewohnten, merkwürdige Erlebnisse beim „Losengehen“ zu Weihnachten, wobei man die Zukunft erforschen wollte, vom Räuberhauptmann Grasel, der auch in Heidenreichstein sein Unwesen trieb, viele Schwedensagen aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, eine Geschichte von einem Zauberstein, der seinem Besitzer ungeheure Kraft verlieh, und so fort.
Besonders jedoch gefiel mir die Erzählung von den verzauberten Steinen, in welcher ein Zauberer die Hauptrolle spielt. Zauberer kommen sonst meist nur in Märchen vor. Im Waldviertler Sagenkreis sind sie jedenfalls wenig bekannt. Man mag diese Geschichte daher auch als Märchen betrachten. In einem Buch, in dem viele Sagen und eine Menge wahrer Geschichten aufgezeichnet sind, da soll auch ein Märchen nicht fehlen, eines der wenigen Märchen, die es im Waldviertel gibt.
Es war einmal ein mächtiger Zauberer, der lebte im Wald zwischen Heidenreichstein und Klein Göpfritz. Hier hatte er sich mit Zauberkräften ein wunderschönes Haus erbaut und ringsherum einen prächtigen Garten angelegt, in dem viele bunte und gar seltsame Blumen blühten.
Haus und Garten übten auf die Menschen einen großen Einfluß aus. Jeder, der in der Nähe vorbeikam, fühlte sich durch eine unsichtbare und unerklärliche Kraft angezogen und näherte sich ungewollt dem Bereich des Zauberers. Sobald er den Garten betrat, erschien dieser, berührte den Unglücklichen mit einem goldenen Staberl, wodurch jeder Mensch zu Stein wurde.
Viele Steine liegen in dieser Gegend verstreut über Wald und Feld. Jeder dieser „Restlinge“ oder „Härtlinge“, wie sie die gelehrten Leute nennen, soll ein verwunschenes Menschenkind sein. Da es niemals einem der Leute gelang, dem Zauberer zu entkommen, und Steine ja nicht reden können, wanderten immer wieder Menschen durch den Wald, gerieten in den Zauberkreis und wurden in Steine verwandelt.
Da geschah es eines Nachts, daß ein Ritter, der die mächtige Wasserburg der Stadt Heidenreichstein bewohnte, nicht einschlafen konnte. Ruhelos schritt er in seinem Gemach umher, ärgerte sich über seine Schlaflosigkeit, öffnete schließlich weit das Fenster und blickte in die dunkle Nacht hinaus.
Gar weit konnte man von dem Fenster aus über das Land schauen, lag doch der Wohnraum des Ritters ganz oben im Turm.
Ruhig und still lag das schlafende Land vor seinen Augen. Alles war vom Mond in ein silbernes Licht getaucht, nur entlang der Bäche und über dem Schloßteich kroch der Nebel in grauen Schwaden. Lange stand der Ritter am Fenster. Plötzlich sah er in der Ferne im Wald ein Lichtlein, welches gespenstisch hin- und hersprang, verschwand und wieder erschien.
„Da sind einige Diebe unterwegs“, dachte er bei sich, „oder sollten es Wilderer sein? Na wartet, ich werde euch das Handwerk legen.“ Schnell lief er in den Burghof und weckte einige seiner Kriegsknechte. Diese bewaffneten sich in aller Eile und eilten so schnell sie ihre Beine trugen hinaus zum Wald, wo das Lichtlein noch immer unruhig hin- und herhüpfte.
Der Ritter, der wieder in sein Zimmer zurückkehrte, konnte seine Soldaten undeutlich im Mondschein beobachten, wie sie im Wald untertauchten und wie bald darauf auch das Licht verschwand. „Haben sie dich erwischt“, lachte er vor sich hin und freute sich darauf, daß seine Krieger bald zurückkommen und die vermeintlichen Diebe mitbringen würden. Die Verurteilung dieser würde ihm viel Spaß bereiten und so die schlaflose Nacht verkürzen. Doch es kam niemand zurück.
Als der Morgen tagte und weder die Kriegsknechte noch sonst jemand aus dem Wald kam, da wurde der Ritter besorgt, ließ sein Pferd satteln, befahl einigen Leuten, ihn zu begleiten und machte sich auf die Suche.
Bald erreichte man die Stelle, wo nachts die Männer den Wald betreten hatten. Man suchte alles nach ihnen ab, doch sie waren verschollen. Nur viele große Steine lagen kreuz und quer im Wald.
Ein alter Bediensteter des Ritters, der die Gegend gut kannte, schüttelte bedenklich den Kopf und meinte, viele dieser Steine seien früher nicht dagelegen. Auch als ihn die anderen auslachten, blieb er bei seiner Meinung und sagte dazu, es wäre besser umzukehren, da es in diesem Wald nicht ganz geheuer sei.
Der Ritter, der ein Abenteuer witterte, war nun nicht mehr zum Umkehren zu bewegen. Immer tiefer drang er mit seinen Leuten in den Wald ein und erreichte gegen die Mittagszeit das Haus und den Garten des Zaubermeisters.
Wie erstaunt waren sie alle, als sie das prunkvolle Gebäude mit seinen mächtigen Marmorsäulen, den vielen Erkern und Türmchen und den wundersam bemalten Mauern erblickten. Und erst der schöne Garten, der sie mit seinen unzähligen bunten und seltsamen Blumen, über denen riesige Schmetterlinge gaukelten, und dem betäubenden Geruch, der über ihm lag, anlockte und zum Betreten aufforderte.
Der Ritter, der ein vornehmer Mann war, wollte jedoch ein fremdes Anwesen nicht betreten, ohne sich vorher angemeldet zu haben. Er beauftragte daher zwei seiner Diener, zum Besitzer dieses Schlößchens zu gehen und ihn anzumelden.
Die beiden betraten daraufhin den Garten und gingen auf einem der Kieswege auf das Gebäude zu. Der Ritter, der ihnen nachsah, bemerkte plötzlich zu seinem Erstaunen eine kleine, bucklige Gestalt, welche zwischen den Sträuchern hervorhüpfte, wie ein Blitz hinter den beiden hersauste und sie mit einem goldenen Stäbchen berührte. Er traute seinen Augen kaum, als er weiterhin sah, wie seine beiden Diener starr und steif wurden, wie ihr Gewand grau und rissig wurde und wie beide allmählich zu Felsen erstarrten. Kichernd und lachend sprang das Männlein um sie herum, rieb sich vor Freude die Hände und verschwand schließlich wieder im üppig wuchernden Blumengewirr des Gartens.
Die anderen Leute des Ritters, die ebenfalls alles mitangesehen hatten, wollten vor Angst und Grauen schnell davon und den verwunschenen Wald verlassen. Der Ritter hielt sie jedoch zurück und sagte: „Hört gut her! Wir wollen diesen bösen Zauberer unschädlich machen und ich habe auch schon einen guten Plan. Ich verstecke mich beim Eingang des Gartens. Zwei von euch betreten diesen. Sobald das Männchen erscheint und euch mit dem Zauberstarb berühren will, springe ich von hinten heran, packe das Kerlchen und entreiße ihm den Stab, damit, so glaube ich, ist seine Macht gebrochen!“
Nach langem Zögern erklärten sich die beiden tapfersten der Gefolgsleute zu diesem Abenteuer bereit. Der Ritter versteckte sich beim Gartentor und die zwei Männer gingen langsamen Schrittes zwischen die Blumenbeete hinein.
Kaum hatten sie einige Schritte gemacht, da erschien tatsächlich wieder das Männlein und sprang von hinten auf sie zu, den Arm mit dem Zauberstab weit vorgestreckt, um sie damit berühren zu können. Bevor er sie aber erreichte, schnellte der Ritter aus seinem Versteck, packte den Zwerg und entwand ihm das Staberl.
Der Zwerg und Zauberer, der sich seines Stockes beraubt sah, hüpfte heulend und kreischend auf den Ritter los, um diesem wieder das kostbare Stäbchen zu entreißen. Bevor er jedoch diesen erreichte, berührte ihn der Ritter damit, und nun geschah wieder das Wundersame. Der Zauberer wurde starr und steif, sein Gewand wurde grau und rissig und er erstarrte zu Stein.
Gleichzeitig ertönte ein lautes Krachen und Poltern. Die Erde begann zu beben und bildete mächtige Sprünge. In einen davon versank das Schlößchen des Zauberers. Der Garten verwandelte sich, die wundersamen Blumen verschwanden und machten Gestrüpp und Unkraut Platz. Fingerhut und Tollkirsche standen auf einmal an den Plätzen der Zauberblumen und dichtes Farnkraut überwucherte die Kieswege. Nur die vielen, vielen kleinen und großen Steinblöcke blieben regungslos auf ihren Plätzen liegen und wurden von der Verwandlung nicht berührt.
Als sich der Ritter und seine Männer von dem Zaubergeschehen erholt hatten, gingen sie zu den Steinblöcken und berührten sie einen nach dem andern mit dem Zauberstab. Und wieder geschah ein Wunder. Die Felstrümmer begannen sich umzuformen, es wurden Menschen daraus. Viele Leute, die in den letzten Jahren spurlos verschwunden waren, kamen zum Vorschein und dankten ihrem Erretter auf den Knien für die Erlösung aus ihrer Not.
Aber nicht alle Steine konnten in Menschen rückverwandelt werden. Nur bei guten Menschen gelang dies. Die Bösen blieben weiterhin in Steine verwandelt und liegen heute noch in großen Mengen in den Wäldern rings um Heidenreichstein. So das Märchen.
Der Ritter, der ein hohes Alter erreichte, soll den Zauberstab, auf den er sehr heikel war, mit ins Grab genommen haben. Welcher der vielen Ritter mag er wohl gewesen sein, die im Laufe der Geschichte Burg Heidenreichstein bewohnten und besaßen.
War er aus der Familie der Grafen von Gars-Eggenburg, von denen Burggraf Heidenreich 1180 bis 1190 die Burg erbauen ließ, gehörte er zum Geschlechte der Kuenringer, die im 13. Jahrhundert die Besitzer dieses mächtigen Wasserschlosses waren, oder war er einer der Herren von Puchheim, die neben dieser Burg auch noch die Burgen von Raabs, Karistein und Litschau ihr eigen nannten.
Quelle: Waldviertler Heimatbuch, Helmut Sauer, Verlag Josef Leutgeb, Zwettl, 2. Auflage 1977, Band I
ISBN ohne Nummer
© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.
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